Vom bewegungslosen Vergehen der Zeit

Saarbrücken. "Seine Formel hieß ausharren", heißt es anfangs über Wilhelm, den Bruder des Ich-Erzählers in Reinhard Kaiser-Mühleckers zweitem Roman "Magdalenaberg". Seit dessen Tod glaubt der zurückbleibende Joseph, "es könne nichts mehr kommen, das mich noch beeindruckt"

Saarbrücken. "Seine Formel hieß ausharren", heißt es anfangs über Wilhelm, den Bruder des Ich-Erzählers in Reinhard Kaiser-Mühleckers zweitem Roman "Magdalenaberg". Seit dessen Tod glaubt der zurückbleibende Joseph, "es könne nichts mehr kommen, das mich noch beeindruckt". Seither wartet er nur noch auf das Vergehen der Zeit und findet, indem er seinem Bruder und der gemeinsamen Vergangenheit nachhängt, doch Stück um Stück zu sich selbst. Das ist die eine, immer markanter werdende Spur dieses Buches. Die andere ist Josephs Nachsinnen über seine Beziehung zu Katharina, die ein Freund eines Tages einfach mitbringt, woraufhin sie bleibt. Zwei Jahre lang. Dann wird sie Joseph genauso abrupt und wortlos wieder verlassen. Während sich die Hauptfigur in Kaiser-Mühleckers Debüt noch in den bäuerlichen Lauf der Dinge fügte und den elterlichen Hof übernahm, verweigert Joseph dies und beginnt in Graz zu studieren. Nach dem Tod des Bruders dann ergründet er auf einem Hof im Almtal ("im letzten oberösterreichischen Winkel") die früher übersehenen Ähnlichkeiten mit Wilhelm.Auf das Angenehmste aus der Zeit gefallen ist dieser Roman, der sich darin genügt, den inneren Stillstand Josephs zu beschreiben und gerade in seiner vordergründigen Ereignislosigkeit Türen aufstößt in Erzählräume, die sonst heutzutage oft geschlossen bleiben. Es sind dies Erzählräume, in denen das Schauen, das Ruhigwerden die Hauptrolle spielen. Und das Benennen von Gefühlslagen auf dem gehörig mäandernden Weg zu dem untergründigen Ziel, "aufzugehen in der Stille". Schon Kaiser-Mühleckers im Alter von 25 Jahren verfasstes Debüt "Der lange Gang über die Stationen" ließ erkennen, dass man es hier mit einem jungen Erzähler zu tun hatte, dessen Schreiben in seiner schwebenden Genauigkeit an Hermann Lenz und in seiner Alltagsadelung an Peter Handke erinnerte. Ganz und gar beseelt davon, weit weg vom Dickicht der Städte den eigenen Radius so weit zu verringern, dass sich wie von selbst das scharf zu stellen beginnt, was im eigenen Gesichtsfeld liegt. Der sich auf einen alten Hof zurückziehende Joseph gibt die Suche nach Menschen und Dingen auf, weil er spürt, "dass durch Suche nichts gefunden werden kann". Das Quartheft, das in der Küche auf dem Holztisch liegt, bleibt unberührt. Joseph, der eigentlich eine Arbeit über Instrumentenbau schreiben will, bringt nichts zu Papier. Dafür blättert er, je mehr er "das Unbedachtsein" hinter sich lässt, nach und nach ein inneres Buch auf. Aus dem Takt gebracht durch den Unfalltod Wilhelms, von dem Joseph lange geglaubt hat, er habe in seinem Leben keine Rolle gespielt. Kaiser-Mühlecker gelingt in "Magdalenaberg" das Kunststück, "das bewegungslose Vergehen von Zeit" auf geradezu körperlich spürbare Weise in Sprache zu fassen. Auf dem Magdalenaberg, auf den sich Joseph immer wieder auf eine Friedhofsmauer zurückzieht, fällt - beim Nachdenken darüber, wie die Ferse an der Mauer reibt - der Schlüsselsatz dieses Romans "Ich frage mich, warum ich mir merke, wie sich das anfühlt, blind, immer und jederzeit weiß, während ich anderes vollkommen vergesse."Reinhard Kaiser-Mühlecker: Magdalenaberg. Hoffmann & Campe, 192 S., 20 €Dieses und andere Bücher versandkostenfrei bestellen: www.saarbruecker-zeitung.de/empfehlungen

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