"Viele Betriebe sind nicht ausbildungsreif"

Die Wirtschaftsverbände überschlagen sich mit Meldungen, wonach händeringend Azubis gesucht werden. Wie ist aus Ihrer Sicht die Lage auf dem Lehrstellenmarkt zu Beginn des neuen Ausbildungsjahres?Sehrbrock: Glänzende Chancen für junge Menschen sind noch immer eine Fata Morgana

Die Wirtschaftsverbände überschlagen sich mit Meldungen, wonach händeringend Azubis gesucht werden. Wie ist aus Ihrer Sicht die Lage auf dem Lehrstellenmarkt zu Beginn des neuen Ausbildungsjahres?Sehrbrock: Glänzende Chancen für junge Menschen sind noch immer eine Fata Morgana. Allein im vergangenen Jahr befanden sich 320 000 Jugendliche in Warteschleifen und Ersatzmaßnahmen, obwohl sie zu einem großen Teil laut der Bundesagentur für Arbeit sofort eine Ausbildung hätten beginnen können. Viele Unternehmen wählen noch immer die besten Schulabgänger aus und schreiben den Rest als nicht ausbildungsfähig ab. Es wird Zeit, dass die Arbeitgeber umdenken.

Aber es gibt einen deutlichen Zuwachs an Lehrstellen. Ist dafür allein die gute Konjunktur verantwortlich?

Sehrbrock: Wir kommen aus dem tiefen Keller. In der Krise 2009 ist die Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge um mehr als 50 000 eingebrochen. 2010 sank sie trotz eines robusten Aufschwungs nochmals um gut 4 000. In diesem Jahr scheint es, als hätten wir die Talsohle durchschritten und könnten uns wieder besseren Verhältnissen nähern. Das ist ein erfreulicher Trend, reicht aber für die Zukunft nicht aus.

Sie bemängeln die schlechten Ausbildungschancen der Jugendlichen, viele Unternehmen - etwa in der Gastronomie - beklagen, dass sie keine Auszubildenden mehr finden. Wie passt das zusammen?

Sehrbrock: Viele Branchen, die über fehlende Auszubildende klagen, haben oft miese Ausbildungsverhältnisse. Viele Betriebe sind einfach nicht ausbildungsreif: Sie bieten eine niedrige Vergütung. Sie halten viele Überstunden und unregelmäßige Arbeitszeiten für normal. Hohe Abbrecherquoten und geringe Übernahmequoten sind nicht selten, gerade in Hotels und Gaststätten. Wenn junge Menschen als billige Arbeitskräfte ausgenutzt werden, bewerben sie sich in diesen Unternehmen nicht mehr. Die Betriebe müssen attraktiver werden - zum Beispiel, indem sie ihre Azubis besser bezahlen.

Wie wird sich der Bedarf an Ausbildungsplätzen in den nächsten Jahren entwickeln?

Sehrbrock: Er wird steigen. Einfache Tätigkeiten verschwinden zunehmend aus den Betrieben. Gleichzeitig wird durch den demografischen Wandel die Zahl der Bewerber sinken. Deshalb müssen die Betriebe auch verstärkt junge Menschen mit Real- oder Hauptschulabschluss in die betriebliche Ausbildung integrieren.

Und was passiert dort, wo Jugendlichen wirklich grundlegende Kompetenzen fehlen?

Sehrbrock: Da brauchen die Ausbildungsbetriebe natürlich Hilfe. Wir müssen die ausbildungsbegleitenden Hilfen ausbauen. Junge Menschen mit Lernschwierigkeiten brauchen frühzeitig zusätzliche Unterstützung zum Beispiel in Deutsch und Mathematik. Betriebe haben übrigens auch heute schon die Möglichkeit, die Ausbildungen auf vier Jahre zu verlängern. Gute Bildung braucht eben Zeit.

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