Ungereimtes aus Stockholm

Saarbrücken. Joyce, Proust und Rilke gingen leer aus, ebenso Tschechow, Musil, Lorca und Brecht. Dem Komitee der Schwedischen Akademie, das alljährlich im Oktober den Literaturnobelpreis vergibt, wird von vielen Kritikern mit den verschiedensten Begründungen Inkompetenz und ein ausgeprägter Hang zur Intrige vorgeworfen

Saarbrücken. Joyce, Proust und Rilke gingen leer aus, ebenso Tschechow, Musil, Lorca und Brecht. Dem Komitee der Schwedischen Akademie, das alljährlich im Oktober den Literaturnobelpreis vergibt, wird von vielen Kritikern mit den verschiedensten Begründungen Inkompetenz und ein ausgeprägter Hang zur Intrige vorgeworfen. Bei aller gebotenen Vorsicht in der Bewertung solcher Behauptungen scheinen die jüngsten Äußerungen des ständigen Sekretärs der Schwedischen Akademie Horace Engdahl die Kritik am literarischen Sachverstand in der 18-köpfigen Jury in gewisser Weise zu bestätigen. Horace Engdahl, der dem Komitee auch vorsteht, hat sich zu der seltsamen Behauptung verstiegen, dass europäische Literatur generell und besonders gegenüber der amerikanischen Literatur von überlegener Qualität sei. Europa - so der Nobelpreis-Sekretär - sei bevorzugtes Ziel von Exilliteraten, während die USA "nicht wirklich am großen Dialog der Literatur" teilnähmen.Das ist starker Tobak, wenn man sich vor Augen führt, wie viele, vor allem auch jüngere Autoren aus aller Welt in den USA ein neues Zuhause gefunden haben und wie groß die Zahl jener prominenten Schriftsteller ist, die regelmäßig an amerikanischen Spitzenuniversitäten lehren. Und die amerikanische Gegenwartsliteratur? Muss sie sich wirklich - wie Engdahl zu suggerieren versucht - hinter der europäischen verstecken? Thomas Pynchon, Don DeLillo, Philipp Roth, Richard Ford, John Updike, Paul Auster oder Jonathan Franzen - um nur einige zu nennen - sollen die in Stockholm nicht zur Kenntnis genommen werden?In der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts hatten die Nobelpreis-Juroren über 1256 Autoren zu befinden. Und die Kriterien hierfür sind bis heute in okkultes Dunkel gehüllt. Daß es hinter der noblen Fassade der Schwedischen Akademie immer wieder Gerüchte über Mauscheleien und Skandale gibt, war merkwürdigerweise aber nie ein Anlass für Aufklärung oder Transparenz. Jetzt aber einer ganzen Nation eine Außenseiterrolle im Gespräch der Weltkulturen zu bescheinigen, zeugt nicht nur von Dünkel, sondern auch von erschreckender Unkenntnis. Horace Engdahl hat jedenfalls der Stockholmer Akademie und dem Ruf des Literatur-Nobelpreises einen Bärendienst erwiesen.

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