Ums nackte Überleben

Frisches, lebendiges Kino“ haben die Festivalleiter Gabriella Bandel und Philipp Bräuer versprochen. Dazu „Eigenwilligkeit, Individualität und Authentizität“.

 Er spürt das Unheil zuerst: Tinnitus, der Hund von Techniker Janek (Gerhard Liebmann), in „Blutgletscher“. Foto: Harald Kienzl/Allegro Film

Er spürt das Unheil zuerst: Tinnitus, der Hund von Techniker Janek (Gerhard Liebmann), in „Blutgletscher“. Foto: Harald Kienzl/Allegro Film

Foto: Harald Kienzl/Allegro Film

Der erste Tag des Wettbewerbs löst das größtenteils ein. Acht lange Spielfilme stehen heute auf dem Programm, die filmische Reise führt von Berlin über Cannes, Zürich und die Alpen bis nach Kasachstan. Bei den Themen geht es querbeet: Krankheit und Tod, Attentat und Amoklauf, Familie und Selbstfindung. Bei den Genres ebenfalls: Drama, Tragikomödie, Polit-Thriller und Fantasy/Horror.

Auffallend und ungewöhnlich: Von den acht Filmen haben bereits vier einen Kinoverleih - und die überzeugen größtenteils mit spannenden Geschichten und handwerklichem Können. Demgegenüber stehen von den Mitteln her kleinere und, was die Machart betrifft, noch nicht so ausgereifte Produktionen, von denen einige aber mit besagter Eigenwilligkeit punkten.

Dazu kann man "Männer zeigen Filme & Frauen ihre Brüste" von Isabell Suba (Deutschland/Frankreich) zählen, ein Mockumentary, also ein Film, der so tut so, als sei er eine Dokumentation, in Wirklichkeit aber inszeniert ist. Die lesbische Regisseurin Isabell {Scaron}uba, die mit einem ihrer Kurzfilme nach Cannes eingeladen wurde, drehte dort einen autobiografischen Film über sich selbst (gespielt von einer Darstellerin) und ihren chauvinistischen Produzenten. Die beiden geraten immer wieder in Streit über die Geschlechterrollen, was für ironische Dialoge sorgt. Ein eigenwilliges Experiment. (Di 11 Uhr, CS1; Mi 22.30 Uhr, FH; Do 12.30 Uhr, CS3; So 20.30 Uhr, FH)

"Poka - Heisst Tschüss auf Russisch" von Anna Hoffmann (D, Kasachstan) erzählt von einer Handvoll kasachischer Spätaussiedler, die voller naiver Vorstellungen nach Deutschland kommen und dort in Container gesteckt werden. Das solide Fernsehspiel pendelt zwischen Drama und Liebesromanze und regt zum Nachdenken über ein aktuelles Thema an. (Heute 20 Uhr, CS4; Mi 14 Uhr, CS1; Do 22.30 Uhr, FH; So 12.30 Uhr, CS4)

Solides Fernsehspiel - das gilt auch für "Seme - Schlage nicht, um zu gewinnen. Gewinne, dann schlage" von Il Kang (Deutschland). Die in langen Einstellungen und mit unspektakulären Bildern erzählte Geschichte gehört zur Kategorie "Junge Menschen aus zerrütteten Familien müssen zu sich selbst finden". In diesem Falle steht der Deutsch-Koreaner Taejon (Shinta Kato) im Mittelpunkt, der sich von seinem dominanten Vater lösen muss. Ein stilistisch konsequenter Film. (Heute 20 Uhr, CS3; Mi 11 Uhr, CS1; Sa 12 Uhr, FH; So 14.30 Uhr, FH)

Das Thema Familie trägt Nico Sommers Tragikomödie schon im Titel. "Familienfieber" (Deutschland) ist eine Geschichte über zwei ungleich begüterte Familien. Sie lernen sich kennen, lieben und hassen, weil sich die Tochter der einen in den Sohn der anderen verliebt hat. Und weil Lügen und Ehebruch mit im Spiel sind. Das ist als eher leichte Kinokost inszeniert und gut gespielt. (Heute 22.30 Uhr, CS3; Mi 20.15 Uhr, FH; Fr 13.15 Uhr, CS1; So 10 Uhr, CS3)

Mit ihrem Hochschul-Abschlussfilm "Totale Stille" ist Zarah Ziadi (Deutschland) ein konsequent erzähltes Psycho-Kammerspiel mit überraschenden Wendungen gelungen. Zwei jugendliche Täter laufen in einer Universität Amok. Ein Dutzend völlig unterschiedlicher Menschen sind in dem Gebäude eingeschlossen, reagieren auf die Ausnahmesituation ganz unterschiedlich - und beeinflussen mit ihrem Verhalten unbewusst auch die Situation ihrer Schicksalsgenossen. Ängste und Verdrängtes, Wünsche und seelische Verletzungen kommen zu Tage, Lebensentwürfe werden hinterfragt - und schließlich geht es ums nackte Überleben. Hochspannend bis zum Schluss. (Heute 22.30 Uhr, CS4; Do 14 Uhr, CS1; Fr 20 Uhr, FH; So 15 Uhr, CS4)

Bereits in dieser Woche in die deutschen Kinos kommt der Polit-Thriller "Der blinde Fleck" von Daniel Harrich (Deutschland). Er zeichnet anhand von Original-Filmaufnahmen und einer Spielfilmhandlung die Recherchen des Journalisten Ulrich Chaussy zu den Hintergründen des Anschlags auf das Oktoberfest 1980 nach. Zusätzliche Brisanz erhält der Film, weil er Parallelen zu den NSU-Morden zieht. Mit Benno Fürmann und Heiner Lauterbach ist das Polit-Drama gut besetzt. Etwas mehr Emotionen und Dramatik hätten allerdings nicht geschadet. Mehr zu Chaussy im Text unten. (Heute 19.30 Uhr, CS1; Mi 12.30 Uhr, CS3; Fr 10 Uhr, CS3; So 20.15 Uhr, CS1)

Jetzt aber Vorhang auf für spannendes Kino. Zwei Filme für die große Leinwand ragen am ersten Wettbewerbstag heraus. "Und morgen mittag bin ich tot" von Frederik Steiner (D/Schweiz) erzählt von einer starken, jungen Frau, die nur noch eines will: sterben. Lea (Liv Lisa Fries) ist 22 Jahre alt und leidet seit früher Kindheit an der Stoffwechselkrankheit Mukoviszidose. Jetzt will sie ihr Leben in einem Schweizer Sterbehospiz friedlich beenden. Steiner hat aus der Geschichte dieser Frau und ihrer Familie einen berührenden Film gemacht, bei dem alles stimmt: die glaubwürdige Geschichte, das überragende Spiel von Liv Lisa Fries, die köstlich-zynischen Dialoge sowie stimmungsvolle Bilder und Musik. (Heute 14 Uhr, CS1; Mi 20 Uhr, CS3; Do 22.30 Uhr, CS3; So 12 Uhr, CS1)

Der österreichische Regisseur Marvin Kren gewann beim Ophüls-Festival 2010 mit seinem weitgehend unblutigen Zombiefilm "Rammbock" den "Preis für den besten mittellangen Film". Jetzt stellt er in Saarbrücken seinen ersten abendfüllenden Spielfilm vor, "Blutgletscher" (Österreich). Das ist ein astreiner Genrefilm, gradlinig und konsequent erzählt, mit einem geschickten Spannungsaufbau, mit Tiefgang, mit hervorragenden Darstellern und packenden Bildern für die Kinoleinwand. Um was es geht? Je weniger man vorher weiß, umso besser. Deshalb hier nur ein paar Stichwörter: die Alpen, der Klimawandel, eine Forschungsstation, Wissenschaftler, ein schmelzender Gletscher, aus dem rote Flüssigkeit austritt - auch hier geht's ums nackte Überleben. Gänsehautkino, nichts für schwache Nerven. (Heute 22 Uhr, CS1; Mi 10 Uhr, CS3; Fr 20 Uhr, CS3; So 12.15 Uhr, CS3)

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