Andrea Nahles Die beschädigte Chefin einer beschädigten SPD

Martin Schulz weiß zu erzählen, dass 100 Prozent auch nicht glücklich machen. Aber 66 Prozent, wie jetzt für Andrea Nahles, sind eindeutig zu wenig. Die Hoffnungsträgerin ist schon beim Start beschädigt.

Andrea Nahles: Die beschädigte Chefin   einer beschädigten SPD
Foto: SZ/Roby Lorenz

Noch mehr aber ist es ihre Partei. Und zwar nicht erst seit Wiesbaden. Wenn gut ein Viertel der Delegierten – und das sind immerhin mittlere und höhere Funktionäre – bereit sind, einen absoluten Nobody wie Simone Lange an die Spitze zu wählen, ist das ein Zeichen einer tiefen Identitätskrise. Die Protestwähler haben das Innere der SPD erreicht: Gegen Hartz IV und sowieso gegen die Agenda-Reformen, gegen die Groko, gegen die Russland-Sanktionen, gegen die Führung in Berlin. Es wird eine der Aufgaben von Andrea Nahles sein, diesen nicht Ruhe gebenden Flügel der frustrierten Sozialromantiker, der teilweise schon ins Sektiererische geht, irgendwie einzubinden. Durch Beteiligung, das hat sie versprochen. Aber auch durch ein Machtwort an der richtigen Stelle.

Auf der gegenüberliegenden Seite, beim Parteiestablishment, gibt es freilich auch Probleme. In der Führung der Partei sowie unter den Ministern und Abgeordneten kommen die meisten aus der sicheren Welt des öffentlichen Dienstes. Oder haben gleich als Berufspolitiker in Verbänden, Gewerkschaften oder Partei Karriere gemacht. Wie viel Basisorientierung gibt es hier noch? Und wie viel Fähigkeit, erst sich und dann auch andere zu begeistern? Der SPD fehlt frisches Blut.

Nach den schweren Turbulenzen des letzten halben Jahres, die die Führung zu verantworten hatte, steht Nahles vor einer komplizierten Aufgabe. Die Erneuerung des verstaubten inneren Parteilebens ist da noch die leichteste. Die Hinterzimmerromantik muss aufhören. Warum nicht künftig eine Urwahl der SPD-Landes- und Bundesvorsitzenden, auch der Spitzenkandidaten in den Ländern und im Bund? Mal sehen, wie viel Mut die neue Parteichefin aufbringt, zumal sie mit Olaf Scholz am Ende dann doch einen Konkurrenzkampf um die nächste Kanzlerkandidatur wird ausfechten müssen.

Schwieriger wird die inhaltliche Erneuerung. Die Führung hat der Basis jetzt zum wiederholten Mal versprochen, dass man in der großen Koalition nicht wieder nur mitlaufen, sondern sich profilieren werde. Wie das in der Praxis funktionieren soll, ist alles andere als klar, zumal zum Beispiel Scholz oder Heiko Maas nicht gerade widerspenstig begonnen haben. Nahles wird versuchen, als Partei- und Fraktionschefin von außen in die Koalition hineinzufunken. Doch darf sie das auch nicht übertreiben, denn ständige Streitereien in der Regierung goutieren die Wähler nicht.

Gleichzeitig muss eine inhaltliche Neuorientierung der Partei stattfinden. Die bisher so leidenschaftlich geführten Diskussionen über Randthemen von Randgruppen dürfen nicht mehr so dominant sein. Ausgerechnet unter Führung der einstigen Parteilinken Nahles muss aus einer Partei der Arbeit eine Partei der Lebenschancen werden. 

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