Analyse zur Regierungserklärung Die überraschend andere Merkel-Erklärung

BERLIN Jedem Anfang wohnt sprichwörtlich ein Zauber inne. Doch es gibt Ausnahmen. Den Zauber des Anfangs mit dem Start der nun schon dritten großen Koalition seit der Jahrtausendwende in Verbindung zu bringen, dürfte wohl nur den allerwenigsten Menschen in den Sinn kommen. Insofern lag die Messlatte für Angela Merkels erste Regierungserklärung als alte und neue Bundeskanzlerin gestern auch vergleichsweise niedrig. Es freut ja schon, dass Deutschland fast ein halbes Jahr nach der letzten Bundestagswahl überhaupt wieder eine handlungsfähige Regierung hat. Wer wollte da auch noch einen politischen Aufbruch erwarten. Vor diesem Hintergrund wusste die Regierungschefin und CDU-Vorsitzende dann allerdings doch positiv zu überraschen.

Es gibt eine Bemerkung, die die Kanzlerin wohl am liebsten ungehört machen würde, wenn sie es denn könnte: „Ich sehe nicht, was wir anders machen sollten“, hatte sie noch kurz nach dem deutlichen Stimmenverlust für ihre Union bei der Bundestagswahl im vergangenen September erklärt. Und damit für viel Kopfschütteln in den eigenen Reihen gesorgt.

Gestern erlebte der Bundestag eine ganz andere Angela Merkel. „Ich habe verstanden“, hätte man ihren gut einstündigen Redeauftritt im Parlament überschreiben können. Bemerkenswert vor allem: Die 63-Jährige nahm sich mit für ihre Verhältnisse ungewöhnlich viel Empathie der Sorgen und Nöte breiter Bevölkerungsschichten an. Angefangen von den Defiziten im Pflegebereich bis zum schwierigen Leben in vielen ländlichen Regionen, die von der gewohnten Infrastruktur immer stärker abgehängt zu werden drohen. Von ihrem Ziehvater Helmut Kohl (CDU) war in dessen politischer Spätphase praktisch nichts Vergleichbares mehr zu hören gewesen. Stattdessen flüchtete sich Kohl in die Sphären der internationalen Politik, was damals als Ausweis von Realitätsverlust galt. Unvergessen, wie der Grüne Joschka Fischer den Oggersheimer deshalb im Bundestag lakonisch einen „Buddha“ nannte.

Dass auch Merkel die Wirklichkeit in diesem Land nicht mehr wahrhaben wolle, kann man ihr nach dieser Rede jedenfalls nicht vorwerfen. Und noch etwas fiel auf: Die Kanzlerin nahm der breiten Kritik an ihrem Innenminister Horst Seehofer für dessen Bemerkungen zum Islam die Spitze, indem sie sich selbst an die Spitze dieser Kritik stellte und den Bayern frontal anging. Man darf das als Kampfansage an all ihre Widersacher in der Union verstehen, vor allem an jene mit CSU-Parteibuch. Auch das war nicht unbedingt zu erwarten. All das deutet drauf hin, dass Merkel sich offenbar nicht mehr nur auf das Moderieren interner Konflikte beschränken mag. Genauso wie sie im 13. Jahr ihrer Kanzlerschaft womöglich kein bloßer Sachwalter der Koalitionsvereinbarung sein will. Sie will in ihrem deutlich verjüngten Kabinett nicht alt aussehen. Sie will es noch einmal wissen.

Nun macht eine gelungene Rede sicher noch keinen Aufbruch. Merkel muss natürlich noch beweisen, wie ernst es ihr ist. Bei ihrem vielbeschworenen „Zusammenhalt“ der Gesellschaft richtet sich das Augenmerk ohnehin erst einmal auf die Groko selbst. Nicht nur Seehofer, sondern auch Jens Spahn ist bislang eher durch Provokation als durch Politik aufgefallen. Die SPD hält im Augenblick zwar still. Aber ihr Zwang zur Profilierung dürfte ebenfalls noch für viel Unruhe sorgen. Das Regieren für Angela Merkel ist auf jeden Fall schwerer geworden. Erfahrungsgemäß war die Kanzlerin allerdings immer dann am stärksten, wenn die Herausforderungen besonders groß waren. Man denke nur an die internationale Finanzkrise. Vielleicht stellt sich ja doch noch ein gewisser Zauber ein.

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