100 Prozent für Schulz? Einstimmigkeit bekommt Parteien nicht immer gut

Berlin Geschlossenheit ist ein sehr hohes Gut in der Politik. Und in der Tat: Wenn eine Partei gespalten ist, oder dauerhaft zerstritten, dann macht man doch besser gleich zwei daraus. Die Frage ist nur, wie viel Geschlossenheit sinnvoll ist.

Als Martin Schulz im März bei seiner Wahl zum SPD-Chef 100 Prozent bekam, herrschte erst große Verblüffung, dann Jubel. Aber man ahnte schon, dass da etwas faul sein musste. Solche Geschlossenheit ist ein Trugbild. Im besten Fall Selbsttäuschung, im schlechtesten zugleich auch noch Täuschung der Wähler. Erst riefen sie Schulz, der ja angeblich sogar übers Wasser laufen konnte, „Hosianna“ zu. Und nach der Wahlniederlage „kreuziget ihn“. Es wäre doch besser, auch die eigenen Leute würden ihre Vorsitzenden etwas irdischer betrachten. Schon, weil der Sturz hinterher dann nicht so tief ist.

Martin Schulz ist nicht der einzige Fall. Nachgerade komisch wirkt es, dass Markus Söder von der CSU-Landtagsfraktion gerade „einstimmig“ zum neuen Ministerpräsidenten-Kandidaten gekürt wurde. Und das nach all den „Schmutzeleien“. Keiner, der nicht ein bisschen nachtragend ist? Und als Christian Lindner am 19. November nachts vor die Presse trat und das Scheitern von Jamaika verkündete, fand sich in der ganzen Führungsriege der FDP niemand, in Zahlen Null, der Zweifel an diesem Kurs geäußert hätte. Nicht vorher, nicht hinterher. Dafür bekräftigte am Montag nach dem Jamaika-Aus der SPD-Vorstand das Nein von Schulz an eine neue großen Koalition. Einstimmig, natürlich. Dabei hatten sich Teilnehmer der Runde gegen eine solche Festlegung ausgesprochen – und sie wurde ja auch Tage später wieder kassiert.

Die genannten Parteien sind Prototypen für das Führungsmodell „Großer Vorsitzender“. Die jeweiligen Chefs treten immer allein zu den Wahlen an, ohne Gegenkandidaten. Sie dürfen auf Parteitagen mehr als eine Stunde dauernde Vorträge halten, die als Höhepunkt der Veranstaltung gelten. Bei Schulz sind die Reden gespickt mit persönlichen, oft sehr sentimentalen Erinnerungen, um die niemand gefragt hat. Bei Lindner mit eloquenten Sprüchen, die ihm selbst am meisten gefallen. Bei Merkels Reden herrscht zwar gepflegte Langeweile, dafür ist sie Kanzlerin. Gemessen wird die Zustimmung dann in der Dauer des Beifalls und in der Abweichung nach unten von 100 Prozent bei der Wiederwahl. Das Ganze erinnert, was die Führungskultur angeht, doch ein wenig an frühere SED-Parteitage.

Grüne, Linke und AfD haben jeweils Doppelspitzen. Notgedrungen, denn sie sind Parteien, deren Gründungsflügel hart miteinander konkurrieren. Dass die FDP, ebenfalls eine Kleinpartei, es anders hält, liegt an der großen Bereitschaft ihrer Mitglieder, jeweils einer Person zu folgen und auf deren Erfolgsaussichten zu setzen. Dass ausgerechnet liberale Freigeister so ticken, ist erstaunlich. Zumal die bisherigen Erfahrungen nicht alle positiv waren. Siehe Westerwelle: „Auf jedem Schiff das dampft und segelt, gibt’s einen, der die Sache regelt.“ Das Schiff ging unter.

Vielleicht muss man sich in allen Parteien von dem 100-Prozent-Ziel verabschieden, auch in den großen. Schon weil jede von ihnen einen oder gar mehrere Koalitionspartner braucht, um zu regieren. Und weil Basis und Bürger nicht mehr so folgsam sind wie früher. Beteiligung ist angesagt. Online-Foren, Regionalkonferenzen, Mitgliederentscheide - das passt nicht mehr so richtig mit der Führungskultur „Großer Vorsitzender“ zusammen, mit der „Topdown“-Kommunikation von oben nach unten. Auch der Zweifel ist eine Tugend. Schulz sollte froh sein, wenn er am Donnerstag ordentlich Gegenstimmen bekommt. Es würde zeigen: Seine Partei lebt.

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