Trügerische Konsumfreude

Frankfurt · Die deutsche Wirtschaft ist auf Wachstumskurs. Konjunkturmotor ist der Konsum. Experten warnen aber: Das Wachstum ist stark von Sonderfaktoren getrieben; darüber hinaus drohen ein Investitionsstau und Reformmüdigkeit das Land zu lähmen.

Es läuft gut für die deutsche Wirtschaft. Kauflustige Verbraucher und ein Staat, der für die Integration Hunderttausender Flüchtlinge Milliarden investiert, dürften die Konjunktur auch 2016 antreiben. Das nächste Wachstumsjahr nach den kräftigen 1,7 Prozent Plus 2015 hat begonnen. So viel scheint sicher. Doch Ökonomen sehen viele Risiken.

"Die deutsche Wirtschaft erlebt einen konsumgetriebenen Aufschwung, unter dessen glänzender Oberfläche die Wettbewerbsfähigkeit mehr und mehr erodiert", urteilt die Commerzbank . Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), hält das konsumgetriebene Wirtschaftswachstum für zu einseitig und unausgewogen: "Die Investitionsschwäche bleibt nach wie vor die große Achillesferse Deutschlands."

Jahrelang war der starke Export Haupttreiber der deutschen Konjunktur - argwöhnisch beäugt von den europäischen Partnern. Die EU-Kommission bescheinigte Deutschland, sein hoher Exportüberschuss berge Risiken für die europäische Wirtschaft. Brüssel forderte von der großen Koalition aus Union und SPD , die Nachfrage im Inland anzukurbeln. Nun sind die Verbraucher in Kauflaune wie lange nicht, auch dank niedriger Sparzinsen und gesunkener Energiepreise. Der Konsum ist mit Abstand (53,9 Prozent) die Hauptstütze der deutschen Wirtschaft und dürfte es 2016 bleiben. Und wieder hat Deutschland ein Problem. Das liegt am zunehmenden Gegenwind für "Made in Germany" auf den Weltmärkten, aber Deutschland bremst sich nach Ansicht von Kritikern auch selbst.

"Das Konjunkturjahr 2015 war mehr Schein als Sein", bilanzierte Martin Wansleben, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertages. "Das Wachstum fällt mit 1,7 Prozent zwar erfreulich gut aus, ist aber gedopt. Ölpreiseinbruch, Euro-Schwäche und Niedrigzinsen kaschieren die anhaltende Investitionsschwäche nur vorübergehend." Arbeitgeber wie Gewerkschaften beklagen einen Investitionsstau. Der "schwarzen Null", also einem Staatshaushalt ohne neue Schulden, werde alles untergeordnet. "Egal, ob Bildung, Pflege oder sozialer Wohnungsbau - erst jetzt wird deutlich, wie massiv viele Bereiche der öffentlichen Infrastruktur unterfinanziert sind", sagte Frank Bsirske , Chef der Gewerkschaft Verdi.

Maschinen- und Anlagenbauer - mit gut einer Million Beschäftigten der größte industrielle Arbeitgeber im Land - erwarten nach Nullwachstum 2015 auch 2016 keine realen Zuwächse. Reinhold Festge, Präsident des Branchenverbands VDMA, vermisst ein Gegensteuern der Politik. "Mit großer Sorge sehen wir zu viel gefühlte Sicherheit und zu wenig Vorbereitung auf das Morgen in Deutschland." Nötig seien ein Ausbau der digitalen Infrastruktur, ein flexiblerer Arbeitsmarkt und steuerliche Forschungsförderung.

"Ich bin besorgt, dass diese Regierung vor lauter Krisenmodus wegen der Flüchtlingsfrage für andere Herausforderungen blind bleibt und angesichts weiterer Steuereinnahmen auf Rekordhöhe in Selbstgefälligkeit erstarrt", so der Präsident des Industrieverbands BDI , Ulrich Grillo. Der Sachverständigenrat der Bundesregierung urteilt: "Derzeit ist wenig von einer Aufbruchstimmung zu spüren, die Deutschland befähigen könnte, seine starke wirtschaftliche Stellung in einer immer enger verflochtenen und digitalisierten Welt zu behaupten." Das Land drohe, seine wirtschaftliche Stärke einzubüßen, warnte Fratzscher: "Die kommenden Jahre könnten Jahre der verpassten Chancen w erden."

Meinung:

Satt und selbstzufrieden

Von SZ-KorrespondentStefan Vetter

Die deutsche Wirtschaft floriert wie seit vier Jahren nicht mehr. Und doch gibt es keinen Grund für Euphorie. Billiges Öl, niedrige Zinsen und ein schwacher Euro beschönigen das Bild. Für alle drei Sonderfaktoren gibt es keine Ewigkeitsgarantie. Der chinesische Konjunkturhimmel verdüstert sich. Auch die Konflikte im Nahen Osten tragen zur Verunsicherung bei. All das ist Gift für ein Exportland wie Deutschland. Doch die Stimmung ist eine andere: Die Nation zeigt sich eher satt und selbstzufrieden. Dabei verbirgt sich hinter der glänzenden Fassade zum Beispiel eine anhaltende Investitionsschwäche. Und wirtschaftspolitischer Reformeifer ist auch nicht gerade ein Markenzeichen der Bundesregierung. Zudem hat das Land ein Innovationsproblem. Wer ganz oben ist, kann umso tiefer fallen. Das gilt auch für Deutschland.

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