Bitte mal wieder anfassen

Als soziale Wesen brauchen Menschen auch Körperkontakt. Er ruft Wohlbefinden hervor und mindert Stress. In einer Zeit jedoch, in der immer mehr Menschen alleine leben, vor allem im Alter, und das Internet an die Stelle persönlicher Kontakte tritt, herrscht ein Mangel an Berührung.

 Ältere Menschen sind oft besonders verarmt, was den Hautkontakt angeht. Doch selbst kleine Kinder bekommen zu wenig davon. Dabei ist regelmäßiger Hautkontakt für Menschen lebenswichtig: Der Herzschlag beruhigt sich, das Wohlbefinden steigt. Foto: Fotolia

Ältere Menschen sind oft besonders verarmt, was den Hautkontakt angeht. Doch selbst kleine Kinder bekommen zu wenig davon. Dabei ist regelmäßiger Hautkontakt für Menschen lebenswichtig: Der Herzschlag beruhigt sich, das Wohlbefinden steigt. Foto: Fotolia

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Berührungen, Hautkontakt und Kuscheln sind in den Industriegesellschaften heute ein großes Manko. Das sagen auch viele Experten. Besonders Senioren und ältere Singles verarmen, was den Hautkontakt angeht, und selbst kleine Kinder bekommen zu wenig davon, wie Kinderärzte bemängeln. Und das, obwohl nachgewiesen ist, dass Neu- und Frühgeborene besser gedeihen, wenn sie regelmäßig berührt, gestreichelt oder massiert werden.

Tatsächlich ist die Berührung durch vertraute Artgenossen für Mensch und Tier sogar lebenswichtig, wie man spätestens seit den 1950er Jahren weiß. Das zeigten legendäre Versuche mit Affenbabys. Diese klammerten sich lieber stundenlang an eine weiche Plüschattrappe, die das Fell der Mutter simulierte, als an ein hartes Drahtgestell, obwohl nur Letzteres Futter bot. Von anderen Tieren ist bekannt, dass Fellpflege und das Lecken von Jungtieren in der Haut Signale auslöst, die bis ins Gehirn dringen und dort Lernen und Stressverhalten beeinflussen.
Berührung aberzogen

Nicht, dass das Wissen um die Bedeutung von Hautkontakt neu wäre: Berührungen und Massage gehören weltweit zum Verhaltensrepertoire in allen Kulturen. Massagen sind vermutlich sogar die älteste Heilmethode der Menschheit, ihre Wurzeln reichen wahrscheinlich bis in die Steinzeit.

Und diese Heilwirkung von Massagen gilt längst nicht nur für banale Muskelschmerzen oder Verspannungen. Sanfte Massage löste im Tierversuch zum Beispiel Narben und Verklebungen des Bindegewebes nach Operationen auf. Das zeigte eine Studie, die ein amerikanischer Schmerzforscher zusammen mit einer Physiotherapeutin durchführte.

Viele Ärzte müssen sich heute aber erst wieder ins Gedächtnis rufen, dass Berührung so viele günstige Wirkungen hat. Schließlich gab es in der Heilkunde, wie der Mediziner und Journalist Dr. Werner Bartens sagt, lange eine Phase, in der Berührungen zwischen Arzt und Patient als potenzielle Infektionsquelle galten. In der Ausbildung wurde jungen Ärzten geradezu aberzogen, Patienten mehr als unbedingt nötig zu berühren. Und das, obwohl die meisten Patienten sich wünschen, dass der Arzt ihres Vertrauens auch Hand anlegt, schreibt Werner Bartens in seinem Buch "Wie Berührung hilft". Auch schöpfen Patienten , die kurz berührt werden, mehr Vertrauen und nehmen ihre Medikamente regelmäßiger ein, wie Sozialpsychologen feststellten.

Der Grund für die sozialen Wirkungen der Berührung ist das sehr hoch entwickelte Tastsystem des Menschen. Schon Embryos im Mutterleib reagieren auf Berührungsreize. Letztlich ist der Tastsinn auch der Sinn, der praktisch nie ausgeschaltet ist und der unablässig Signale ans Gehirn sendet. Bei angenehmen Berührungen und Hautkontakt wird außerdem das Hormon Oxytocin ausgeschüttet, das Stress abbaut sowie Bindungen und Vertrauen zwischen Menschen fördert.

Als Wesen, die in Gruppen leben und enge Bindungen pflegen, sind Menschen sogar besonders auf Kontakt mit Artgenossen geeicht. Das zeigt sich am Aufbau der Haut. "Menschen haben ein eigenes Wahrnehmungssystem für soziale Berührungen", sagt Dr. Robert Schleip von der Universität Ulm , derzeit der bekannteste deutsche Erforscher des Bindegewebes. Die menschliche Haut und das Bindegewebe, das unter der Haut liegt, verfügen über spezielle Sensoren, die Druck und Berührung ans Gehirn und das vegetative Nervensystem weiterleiten.

So reagieren unter anderem der Herzschlag und die Wände der Blutgefäße auf Berührung und Massagen, besonders auf Massagen mit einem gewissen Druck. Der Herzschlag beruhigt sich, die Blutgefäße weiten sich. Das wirkt entspannend, und so profitieren auch Seele und Gemüt von der angenehmen Berührung.

Wie man angefasst wird, ist allerdings keineswegs egal. Schon Babys erkennen, ob sie auf die richtige Weise berührt werden. Liebevolles Streicheln beruhigt sie, gefühlloses Rubbeln oder zu leichtes Tasten irritiert. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Geschwindigkeit, wie Forscher des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München 2014 feststellen konnten. Eine angenehme Berührung beruhigt den Herzschlag nur, wenn das Reiben über die Haut in einer ganz bestimmten Geschwindigkeit erfolgt.

Die Psychologen klügelten dafür einen raffinierten Test aus. Sie streichelten die kleinen Probanden mit einem Pinsel in verschiedenen Geschwindigkeiten, während vor den Babys ein Trickfilm lief, der sie ablenken sollte. Die Babys im Alter zwischen acht bis zehn Monaten reagierten nur bei einer mittleren Geschwindigkeit der Pinselbewegung, die dem echten Streicheln entspricht. Ihr Herzschlag beruhigte sich und sie schauten vermehrt aufmerksam auf den Pinsel statt auf den spannenden Trickfilm.

Die Münchener Forscher befragten auch die Eltern der Babys und stellten einen Zusammenhang fest. Je mehr die Eltern selbst empfänglich für Berührungen waren, sie als angenehm empfanden und andere gerne berührten, desto stärker beruhigte sich bei ihren Babys im Versuch der Herzschlag. Mit anderen Worten: Die Freude an angenehmen Berührungen wird schon in frühester Kindheit im Elternhaus vermittelt.

Wie wirksam angenehme Berührungen sein können, entdecken Fachleute gerade neu. So stellten Psychiatrie-Forscher an der Berliner Universitätsklinik Charité fest, dass einfache Streichelmassagen bei leichteren Depressionen und Angststörungen mindestens genauso gut helfen wie bekannte Entspannungs- und Wahrnehmungstechniken, etwa Autogenes Training. Dabei war der Leiter der Studie, Professor Dr. Bruno Müller-Oerlinghausen, eigentlich ein hartgesottener Pharmako-Psychiater. Er gilt als der deutsche Vater der Lithium-Therapie, der medikamentösen Ausbalancierung des Gehirns bei Menschen mit manisch-depressiver Erkrankung.
Erstaunliche Erfolge

Doch der Mediziner fragte nach Alternativen, nach angstlösenden, beruhigenden Verfahren, die in einer Klinik einfach anzuwenden sind. Dazu ließ Müller-Oerlinghausen Depressiven und Angstpatienten von einer Körpertherapeutin eine spezielle sanfte Ganzkörpermassage angedeihen. Ergebnis: Die Probanden brauchten weniger Medikamente, hatten weniger schwere Depressionen und äußerten sich erstaunlich positiv über diese Behandlung.

Der Clou dabei ist, dass es keineswegs auf klassische Massage- Griffe ankam - sanfte, langsame Streichungen über den ganzen Körper, wie sie zu der von Bruno Müller-Oerlinghausen und Claudia Berg entwickelten "Slow Stroke Massage " gehören, reichten aus. Zum Abschluss seiner Studie empfahl der renommierte Medikamentenforscher, doch von solch therapeutischer Berührung in Kliniken und Praxen "mehr Gebrauch" zu machen.

Richtig durchgedrungen ist der innovative Arzt mit seinen Erkenntnissen allerdings noch nicht. Für ihn ist das jedoch der Anlass, eine weitere Studie in die Wege zu leiten. "Wir wollen in Kliniken in Süddeutschland erforschen, ob therapeutische Berührung dazu beitragen kann, das sogenannte chronische Fatigue-Syndrom, das bei vielen Krebspatienten auftritt, zu lindern", sagt Müller-Oerlinghausen. Es handelt sich dabei um die körperliche, geistige und emotionale Erschöpfung, deren Grund noch unbekannt ist und die viele Betroffene als große Qual empfinden.

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