Wissen Saarbrücker Forscher jagen Killerzellen
Saarbrücken · Das neue Zentrum für Biophysik an der Universität des Saarlands nimmt unser Immunsystem unter die Lupe.
Unser Immunsystem ist eine phantastische Sache. Jeder Mensch trägt in sich einige Billionen Zellen, die dafür sorgen, dass Bakterien und Viren, die es durch den äußeren Schutzmantel des Körpers, die Haut, geschafft haben, aufgespürt und vernichtet werden. Auch krankhaft veränderte Zellen kann das Immunsystem erkennen und zerstören und so Krebs verhindern. Zusammengenommen bringen die Abwehrzellen des Körpers etwa das Gewicht der Leber (drei Kilogramm) auf die Waage. Doch ist die Leber ein kompaktes Organ mit einer klaren Struktur, das Immunsystem dagegen ein schwer zu fassendes, wolkiges Etwas, das aus einer zwölfstelligen Zahl von Einzelzellen besteht, die im gesamten Körper verteilt sind. Wie können sie sich zur Attacke auf Viren oder Bakterien versammeln oder einen Tumor bekämpfen? Darauf kann die Antwort nur lauten: Die Zellen des Immunsystems kommunizieren und organisieren sich selbst, sagt Professor Heiko Rieger von der Saar-Universität.
Emergentes Verhalten nennen Wissenschaftler dieses Phänomen. Der Begriff ist abgeleitet vom Lateinischen „emergere“ („auftauchen“) und beschreibt einen wie von selbst ablaufenden Zusammenschluss einzelner Komponenten zu einem Ganzen, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Wie das im Fall des Immunsystems funktioniert? Das ist eine der Fragen, die der Saarbrücker Physiker und 120 weitere Wissenschaftler im neuen Zentrum für Biophysik an der Saar-Uni beantworten wollen. Das Wissenschaftszentrum basiert auf dem Sonderforschungsbereich (SFB 1027) mit dem schwierigen Namen „Physikalische Modellierung von Nicht-Gleichgewichtsprozessen in biologischen Systemen“. Heiko Rieger ist sein Sprecher.
Mit dem Zentrum für Biophysik verhält es sich an der Uni fast wie mit dem Immunsystem im menschlichen Körper. Seine einzelnen Komponenten sind an der Hochschule weit verstreut. Das allerdings soll sich ändern. Der Wissenschaftsrat, der der Saar-Uni „eine nationale Vorreiterrolle“ bescheinigte, empfiehlt einen Neubau an zentraler Stelle. Das neue 37-Millionen-Euro-Domizil, dessen Finanzierung sich Bund und Saarland teilen (wir haben berichtet) wird bis 2023 auf den Saarbrücker Campus gestellt.
Das 3800 Quadratmeter große Wissenschaftszentrum wird ein unübersehbarer Klotz. Im Mittelpunkt seiner Forschung steht jedoch ein mit bloßem Auge unsichtbares Objekt: die nur tausendstel Millimeter große Killerzelle des Immunsystems, der sogenannte T-Lymphozyt. Mit ihren faserartigen Ausläufern können sich diese Zellen durch den Körper bewegen. Sie besitzen ein biochemisches Ortungssystem, mit dem sie körperfremde Zellen an deren Oberflächenmerkmalen erkennen. Jeder T-Lymphozyt ist dabei auf die Jagd nach einem ganz bestimmten Zelltyp spezialisiert. Erkennt eine Killerzelle einen Eindringling, auf den sie programmiert ist, heftet sie sich fest, perforiert dessen Zellwand und pumpt ihn mit Zellgiften voll.
Dieser Ablauf ist zwar im Prinzip bekannt, aber im Detail längst noch nicht verstanden. Auch wie sich das Heer von Milliarden T-Lymphozyten im Körper die Arbeit teilt, müsse erforscht werden, erklärt der Physiker Heiko Rieger. „Wir wissen nicht, welche Strategien Killerzellen bei der Suche nutzen.“ Weitgehend unbekannt sei schließlich, ob und wie T-Lymphozyten bei ihren Patrouillen kommunizieren. Wenn erst einmal verstanden sei, wie diese Zellen kooperieren, „könnten wir Wirkstoffe entwickeln, die es zum Beispiel ermöglichen, Reaktionen des Immunsystems zu verstärken“.
Ein Fernziel der Forschung am SFB ist die Verbesserung der Immuntherapien gegen Krebs. Die Wissenschaftler wollen herausfinden, welche Strategien ein Schwarm von Killerzellen nutzt, wenn es darum geht, einen Krebsherd zu zerstören, und auch wie genau Killerzellen andere Zellen töten. Dazu muss ein T-Lymphozyt die Nachbarzelle perforieren und den Inhalt eines winzigen Bläschens mit Zellgiften, eines sogenannten Vesikels, hineinbugsieren. Auch hier gilt: Im Prinzip ist bekannt, was da geschieht, doch wie genau es eine Killerzelle bewerkstelligt, das schwere Wirkstoffbläschen genau dorthin zu transportieren, wo sie in Kontakt mit der Zielzelle steht, das muss noch erforscht werden, erklärt Heiko Rieger. Sind die Mechanismen erst einmal verstanden, davon sind die Wissenschaftler überzeugt, wird dieses Wissen helfen, auch andere Zellfunktionen besser zu verstehen. Biochemische Methoden, die Immunzellen nutzen, haben zum Beispiel Ähnlichkeit mit Techniken, die Nervenzellen beim Informationsaustausch anwenden. Heiko Rieger fasst es so zusammen: „Wir werden viele Prozesse in unserem Körper besser verstehen, wenn wir wissen, welche Physik dahintersteckt.“