Medizin Demenz durch Arzneimittel?

Saarbrücken/Mannheim · Wenn das Gedächtnis im Alter spürbar schwächer wird und es immer schwieriger wird, sich im Alltag zurechtzufinden, können das die Frühzeichen einer Demenz sein. Es könnten allerdings auch Medikamente dahinterstecken.

 Die Demenz zählt in Deutschland zu den besonders gefürchteten Krankheiten. 40 Prozent aller Menschen haben nach einer DAK-Umfrage Angst vor dem geistigen Verfall. Viele wissen jedoch nicht, dass Symptome einer Demenz auch von Arzneimitteln ausgelöst werden können.

Die Demenz zählt in Deutschland zu den besonders gefürchteten Krankheiten. 40 Prozent aller Menschen haben nach einer DAK-Umfrage Angst vor dem geistigen Verfall. Viele wissen jedoch nicht, dass Symptome einer Demenz auch von Arzneimitteln ausgelöst werden können.

Foto: dpa/Karl-Josef Hildenbrand

Demenz ist das Schreckgespenst der letzten Lebensphase eines Menschen. Ist die Diagnose gestellt, gilt der Betroffene als Pflegefall, wird abhängig und größtenteils hilflos. Was so gravierende Folgen hat, ist aber reichlich schwammig definiert. Als dement gilt eine Person, wenn ihre geistigen Fähigkeiten erkennbar eingeschränkt sind und dies länger als sechs Monate anhält. Die Ursache wird oft vernachlässigt. „Dabei ist es ganz entscheidend, warum jemand geistig nicht mehr voll leistungsfähig ist. Verschiedene Vorgänge können nämlich die gleichen Symptome auslösen“, sagt Martin Wehling, Internist und Direktor der Klinischen Pharmakologie der Medizinischen Fakultät in Mannheim der Uni Heidelberg. Er ist Leiter der Arbeitsgruppe Arzneimitteltherapie der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG).

Die Leistungsfähigkeit des Gehirns kann durch strukturelle Veränderungen abnehmen, die nicht umkehrbar sind. Dann liegt eine echte Demenz vor, wie etwa bei Alzheimer. Andere Ausfallerscheinungen werden als funktionelle Störungen bezeichnet, das Gehirn bleibt dabei grundsätzlich unbeschädigt. Dazu gehört die durch Medikamente ausgelöste Arzneimittel-Demenz, treffender als demenzähnliches oder demenzielles Syndrom bezeichnet. Diese Form ist nicht dauerhaft. Werden die auslösenden Wirkstoffe abgesetzt, kommt die Hirnleistung in der Regel zurück.

Jeder weiß, dass bestimmte Substanzen sich auf das Verhalten auswirkten. Alkohol ist ein alltägliches Beispiel. „Er verändert vorübergehend die Persönlichkeit, einige Menschen werden anhänglich, andere aggressiv. Alkohol beeinträchtigt die Denk- und Merkfähigkeit. Wer zu viel trinkt, wird objektiv unzurechnungsfähig. So ist das auch mit vielen Medikamenten“, fasst Wehling zusammen. „Vereinfacht und umgangssprachlich gesagt, machen deren Wirkstoffe blöd – vorübergehend. Außer, man nimmt sie dauerhaft. Dann werden die Betroffenen nach einem halben Jahr für dement erklärt“, erklärt der Mediziner. Bei einem Drittel der Demenzdiagnosen dürften nach seiner Schätzung Medikamente zumindest Mitauslöser für geistige Lücken sein.

Allgemein lassen Stoffwechselaktivität und Organleistungen in der zweiten Lebenshälfte nach. Medikamente wirken oft stärker und länger als bei Jüngeren. Zudem steigen Neben- und Wechselwirkungen stark an. „Jeder Patient reagiert anders auf Medikamente, ältere meist viel empfindlicher. Der Arzt muss sehr genau beobachten, welche Wirkungen beim Patienten eintreten, besonders bei der Einnahme von mehreren Arzneimitteln“ sagt Daniel Grandt, Chefarzt der Inneren Medizin am Klinikum Saarbrücken. Er ist Vorstandsmitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft und Mitbegründer des Aktionsbündnisses Patientensicherheit. Häufig fehlten entscheidende Daten für die Behandlung älterer Patienten, weil klinische Studien Teilnehmer über 65 Jahren meist ausschlössen. Dabei seien gerade sie es, die Arzneimittel einnehmen, oft mehr als fünf verschiedene Wirkstoffe gleichzeitig.

Wie Untersuchungen zeigen, treten Nebenwirkungen bei Älteren bis zu siebenmal häufiger auf und die Wahrscheinlichkeit einer Demenz-Diagnose steigt mit der Zahl der Mittel. „Eine Studie besagt sogar, es gibt bis zu 80 Prozent mehr Demenz-Diagnosen durch falsche oder überdosierte Medikamente“, sagt der Pharmakologe Wehling. „Besonders tragisch können durch Arzneinebenwirkungen ausgelöste Stürze sein. Ein bei Älteren häufiger Oberschenkelhalsbruch etwa macht immobil, bedeutet häufig den Anfang eines Pflegefalls und endet für bis zu 30 Prozent der Betroffenen tödlich.“

Alle Substanzen, die im Gehirn wirken, können ein demenzielles Syndrom verursachen. Dazu gehören Mittel gegen Parkinson, Epilepsien, Depressionen, Psychosen, Allergien, Schmerzen und Schlafstörungen. Einige sind sogar rezeptfrei erhältlich. „Vor allem Arzneimittel, die den Botenstoff Acetylcholin hemmen, können kognitive Leistungen beeinträchtigen mit Folgen wie bei einer Demenz“, erläutert Grandt.

Es gebe auch Substanzen, die nicht aufs zentrale Nervensystem wirkten, überdosiert oder falsch kombiniert aber trotzdem die geistige Leistung beeinträchtigen könnten, darunter so gängige Mittel wie Blutdruck- und Blutzuckersenker, Schmerzmittel wie Ibuprofen und einige Antibiotika.

Problematisch sind vor allem Verordnungskaskaden, bei denen die Nebenwirkung eines Präparats als Symptom einer Krankheit mit weiteren Medikamenten behandelt wird. „Ein sehr häufig unterschätztes Risiko sind zudem rezeptfreie Mittel, die sich die Menschen oft noch zusätzlich besorgen und ohne Rücksprache mit dem Arzt oder Apotheker einnehmen. Selbstmedikation kann durchaus gefährlich sein, denn frei verkäuflich heißt nicht frei von Risiken. Besonders wenn Arzneien kombiniert werden“, warnt Grandt.  

Die Lösung sei ein umfassender Medikationsplan, der alle Präparate berücksichtigt. „Wenn bei Patienten, die mehrere Arzneimittel einnehmen, Gedächtnisprobleme oder andere kognitive Störungen auftreten, sollte ihre Medikation geprüft und gegebenenfalls verändert werden“, sagt Grandt. Dabei sei es auch für Fachleute schwierig, zwischen Arzneimittelnebenwirkung und Demenz zu unterscheiden, weil sich die Symptome gleichen könnten.

„Es ist ein großer Fortschritt, dass wir heute über Wirkstoffe gegen so viele Krankheiten verfügen. Bei ihrem Einsatz gilt es aber immer, Nutzen und Risiken abzuwägen. Ein häufiger Fehler ist, eine einmal aus gutem Grund begonnene Therapie auch dann noch fortzuführen, wenn das Therapieziel längst erreicht ist“, erklärt Grandt. Dem pflichtet auch Martin Wehling bei und ergänzt: „Eine gute Therapie setzt individuelle Prioritäten und wird laufend aktualisiert. Den Arzneimittelkonsum möglichst gering zu halten, ist in den allermeisten Fällen die beste Lösung. Schlaflosigkeit etwa wird in den meisten Fällen überbewertet. Im fortgeschrittenen Alter sind vier bis fünf Stunden Schlaf, auch mit Unterbrechungen, normal und ausreichend. Leider fehlt im Praxisalltag oft schlicht die Zeit, um auf jeden Patienten mit all seinen Belangen einzugehen. Das ist ein für viele Menschen folgenreicher Fehler unseres Gesundheitssystems.“

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