Wissen Der kleine Bruder des Aids-Virus

Marburg  · HTLV kann eine besonders aggressive Form der Leukämie auslesen. 20 Millionen Menschen sind infiziert.

 Das HI-Virus, der Erreger der Immunschwächekrankheit Aids, ist heute allgemein bekannt. Das HTLV-Virus, das kurz vor dem Aids-Erreger entdeckt wurde und mit ihm viele Gemeinsamkeiten hat, ist dagegen außerhalb der Fachwelt kein Begriff. Dabei sind nach Angaben der Ärztezeitung weltweit geschätzt 20 Millionen Menschen mit diesem Erreger infiziert, der bei jedem zwanzigsten Infizierten eine besonders aggressive Form der Leukämie auslösen kann.

Dass dem HI-Virus die volle Aufmerksamkeit der Forschung zuteil wurde, liegt daran, dass es sich sehr schnell in den hochentwickelten Industrieländern ausbreiten konnte. Seit dem ersten Auftreten in den 1980er Jahren haben sich Heerscharen von Forschern darum bemüht, die Krankheit zu verstehen und zu bekämpfen. Inzwischen gilt Aids als beherrschbar. Eine Heilung gibt es nicht, durch Medikamente kann die Krankheit im Körper allerdings in Schach gehalten werden. Ansteckungsgefahr besteht allerdings weiterhin, vor allem durch ungeschützten Geschlechtsverkehr oder Spritzentausch bei Drogenkonsum. Dasselbe Risiko besteht auch bei Infektionen mit HTLV-1-Viren. Doch die Forscher ließen das Thema zunächst links liegen.

Die Abkürzung HTLV-1 steht für „Humanes T-lymphotropes Virus 1“. Es wurde entdeckt, noch bevor Wissenschaftler um Robert Gallo in den 1980er Jahren das HI-Virus fanden. Aufgrund der Ähnlichkeiten wurde HIV sogar kurzzeitig als HTLV-3 bezeichnet. Beide Virenarten sind sogenannte Retroviren: „Sie schleusen ihre Erbsubstanz in die Zelle“, erklärt Corey Taylor von der Universität Marburg. In der Zelle wird die Erbsubstanz des Virus zunächst in menschliche DNA umgeschrieben. Dann übernimmt das Virus das Kommando in den zum Immunsystem gehörenden T-Zellen. Sie sollen fortan neue Viren produzieren.

HTLV gehört zu den seltenen Infektionen. Weltweit gelten rund 20 Millionen Menschen als infiziert. Doch diese Angabe beruhe auf Schätzungen und könnte maßlos untertrieben sein, meint Taylor, denn die zugrunde liegenden Daten seien Jahrzehnte alt. Jetzt hat sich ein Wissenschaftler-Team an die Arbeit gemacht und die Weltgesundheitsorganisation WHO in einem offenen Brief aufgefordert, mehr gegen dieses Virus zu unternehmen. Unterstützt wird die Initiative von Robert Gallo, dem Entdecker von HIV und HTLV.

Bei fünf Prozent der Infizierten führt die Infektion im höheren Alter zu einer Leukämie. Bricht die Krankheit aus, sind die Überlebenschancen gering. „Die Menschen sterben innerhalb eines Jahres“, sagt Taylor. Die Therapie sei schwierig, die Nebenwirkungen sind groß. HTLV kann auch zu schweren Nervenkrankheiten führen, die sich ähnlich wie Multiple Sklerose äußern. Es werde insgesamt wenig zu HTLV geforscht, erklärt Taylor. „Jeder, der an Retroviren forschte, konzentrierte sich auf HIV“, sagt der Pariser Epidemiologe Antoine Gessain gegenüber dem Fachmagazin „Science“. Die Krankheit komme vornehmlich in entlegenen Regionen und in den wenig entwickelten Ländern der Südhalbkugel vor. Betroffen seien vor allem Afrika, Brasilien, in Australien sei in manchen Bevölkerungsgruppen der Ureinwohner des Landes jeder Zweite infiziert.

Dass HTLV auch in Japan vorkommt, stellt die Wissenschaftler vor ein Rätsel. „In Rumänien gibt es einige Fälle. HTLV sei zwar sehr selten und „keine Krankheit, über die man in Deutschland besorgt sein sollte“, erklärt der Forscher. „Doch die Krankheit kann sich ausbreiten“, gibt der 39-jährige Wissenschaftler zu bedenken.

Corey Taylor stammt aus Australien, studierte dort zunächst Chemie und hat auch einen Masterabschluss in Informatik. Nun sucht er sein Wissen aus Natur- und Computerwissenschaft in der Medizin anzuwenden und promoviert im Institut für Pharmazeutische Chemie der Universität Marburg. Die Forschergruppe simuliert dort pharmakologische Prozesse zwischen Viruspartikeln und Medikamenten am Computer.

„Im Fokus haben wir seltene Krankheiten, alles ist offen zugänglich“, erklärt Taylor. Der zentrale Begriff der Arbeitsgruppe lautet „open pharma“. Die Forscher legen Daten und Berechnungen öffentlich zugänglich im Internet ab. Im Visier hat die Forschergruppe  biochemische Prozesse bei der Vermehrung des Virus in der Zelle. Da das Erbgut des HI- und HTL-Virus in einigen Abschnitten zu einem Drittel  übereinstimmt, untersucht Taylor, ob ein Aids-Medikament auch gegen HTLV wirken könnte oder ob es möglicherweise so variiert werden kann, dass es wirkt.

Da menschliche T-Zellen nach einer Virenattacke trotz Therapie absterben, empfehlen Wissenschaftler, die Viren deutlich früher zu stören. „Ganz am Anfang kommt das Protein ‚tax‘ ins Spiel, das die natürliche Abwehr der menschlichen Zelle ausschaltet“, sagt Taylor. Dieses Protein wäre ein lohnendes Ziel für eine Therapie. Wenn es sich ausschalten ließe, könnte die zelleigene Müllabfuhr die Angreifer beseitigen.

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