Paläontologie Einwanderer brachten Europa zur Blüte

Saarbrücken · Genforscher konnten im Erbgut der Europäer nachweisen, dass der Kontinent drei große Besiedlungswellen erlebt hat.

„Alle Menschen, die heute in Europa leben, stammen von Einwanderern ab“, sagt Johannes Krause. Der Professor für Archäogenetik an der Universität Tübingen und Direktor des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte in Jena rekonstruiert aus dem Erbgut uralter Knochen die Geschichte unserer Vorfahren. Krause und seine Kollegen haben in den vergangenen Jahren bahnbrechende Forschungsergebnisse zur Besiedlung Europas vorgelegt. Daher muss die Menschheitsgeschichte teilweise neu geschrieben werden. „Seit Jahrtausenden gibt es keine genetisch reinen Gruppen mehr in Europa“, erklärt Krause.

Anatomisch moderne Menschen breiteten sich in Europa vor rund 40 000 Jahren aus. Sie lebten als Jäger und Sammler. Vor rund 8000 Jahren leiteten Einwanderer aus dem Nahen Osten die landwirtschaftliche Revolution im heutigen Europa ein. Das konnte erstmals Johannes Krause nachweisen, als er 2014 die Überreste einer Frau untersuchte, die vor über 7000 Jahren im Raum Stuttgart gelebt hatte. Ihre Knochen waren lange Zeit in einem Keller der Universität Tübingen gelagert worden.

Das Ergbut der Frau lässt auf Vorfahren aus Anatolien schließen. Sie war Bäuerin. Ihre Erbinformationen unterscheiden sich deutlich von denen, die Forscher in den Knochen von Jägern und Sammlern gefunden haben, die bereits seit Jahrtausenden durch Europa gezogen waren.

Inzwischen haben Hunderte Erbgutuntersuchungen von Menschen, die vor 8000 bis 5000 Jahren in Europa lebten, bestätigt, dass bäuerlich geprägte Großfamilien aus Anatolien, die neues Land in Besitz nehmen wollten, Zentraleuropa besiedelten – von der heutigen Ukraine bis zu den britischen Inseln. Ein Teil kam über den Balkan im Süden entlang der Ägäis und der Adria, ein anderer über den Donaukorridor im Norden.

Mit diesen Erbgutanalysen konnte ein langer Streit unter Wissenschaftlern beigelegt werden. Jetzt ist klar, dass erst die Einwanderer die Landwirtschaft nach Europa brachten. Keinesfalls hatten sich Ackerbau und Viehzucht nach und nach in Europa selbst entwickelt. Die Zuwanderer aus Anatolien waren zahlenmäßig so überlegen und bekamen aufgrund ihrer Lebensweise so viel mehr Kinder, dass die bislang in Europa heimischen Jäger und Sammler dramatisch an Bedeutung verloren. „Sie zogen sich in Gebiete zurück, die für die Landwirtschaft ungeeignet waren, in die Mittelgebirge und den kalten Norden Europas“, erläutert Johannes Krause.

Die eingewanderten Bauern ackerten rund um die Uhr, um ihr Überleben zu sichern. Die Erträge waren noch dürftig, mühsame Handarbeit war vonnöten. Doch bereits damals gab es neidische Nachbarn. Schon bald mussten die Bauern ihre Siedlungen mit Befestigungsanlagen schützen. Massengräber, die mittlerweile überall in Mitteleuropa gefunden worden sind, zeugen von kriegerischen Auseinandersetzungen. „Landwirte kämpften gegen Landwirte“, sagt Krause.

Die zurückgedrängten Jäger und Sammler verschwanden keineswegs von der Bildfläche. Im Gegenteil, sie feierten 2000 Jahre später ein regelrechtes Comeback, wie eine weitere spektakuläre Erkenntnis der Archäogenetik zeigt. Vor etwa 5400 Jahren drangen sie aus Skandinavien, wo sie ausgeharrt hatten, im Osten bis ins heutige Weißrussland vor, im Westen bis ins heutige Sachsen-Anhalt. Dieses Mal mussten sich die hier ansässigen Ackerbauern zurückziehen. Jäger und Landwirte vermischten sich jedoch. „Wir tragen heute die Gene beider Gruppen in uns“, sagt Krause.

Doch es gibt noch eine dritte genetische Säule. Eine weitere Einwanderungswelle vervollständigte das Erbgut, das die Europäer heute ausmacht. Für die Wissenschaft war es schwierig zu erklären, wo diese dritte Komponente herkam. „Die neue Gengruppe tauchte vor 4800 Jahren in den Knochen der Europäer plötzlich und massiv auf“, sagt Johannes Krause. Wiederum waren es Erbgutanalysen, die Klarheit brachten.

Vor knapp 5000 Jahren erlebte Mitteleuropa eine so gewaltige Einwanderungswelle, dass innerhalb von nur 100 Jahren die Gene der Ackerbauern sowie Jäger und Sammler fast vollständig verschwanden. „Um heute einen ähnlichen Effekt zu erzielen, müssten auf einen Schlag zehn Milliarden Menschen nach Europa einwandern oder eine Milliarde Menschen nach Deutschland“, sagt der Archäogenetiker. Das wären zwölf Zuwanderer pro Bundesbürger.

„Mit Knochen aus Sachsen-Anhalt konnten wir schließlich belegen, dass die Einwanderer aus der pontisch-kaspischen Steppe nördlich des Schwarzen und Kaspischen Meeres im Süden Russlands stammten“, berichtet Krause. Es waren Bauern, die neues Weideland für ihre riesigen Rinderherden suchten. Die alteingesessen Bauern besaßen hingegen nur wenige Tiere. Die Eindringlinge nutzten zudem Pferde, Rad und Wagen sowie überlegene Waffen, darunter die in Europa unbekannten Kurzbögen und Streitäxte, wie archäologische Funde belegen. Das alles erklärt, warum sich die Gene aus der Steppe mit großer Geschwindigkeit ausbreiteten.

Die Genforscher haben herausgefunden, dass 80 Prozent der Einwanderer aus der Steppe Männer waren. Zeugten sie als Einzige mit den ansässigen europäischen Frauen Kinder? Die genetischen Effekte der Migration nach Mitteleuropa waren jedenfalls gewaltig. Fast 90 Prozent der männlichen Geschlechts-Chromosome der alteingesessenen Europäer (Y-Chromosome) wurden verdrängt.

Doch es war keine kriegerische Eroberung Europas. Die Pest hatte die Zahl der Europäer extrem reduziert. Das belegt ein weiterer Zweig der Genforschung, der die Ausbreitung von Seuchen untersucht. Krause sagt: „Wir haben in Skeletten dieser Zeit die ältesten Pesterreger gefunden. Die Migranten drangen also in weitgehend entvölkerte Landstriche vor.“ Die Allerersten der Einwanderer aus der Steppe hatten wahrscheinlich die Pest nach Europa eingeschleppt.

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