Kriegsdoku des Fantasy-Meisters Denken stand den Männern nicht zu

✮✮✮✮ „They Shall Not Grow Old“ von Peter Jackson: Packende Doku über den Ersten Weltkrieg.

 Hier haben die Soldaten – ein seltenes Bild – einmal Grund zum Lachen. Ansonsten regiert das Grauen.

Hier haben die Soldaten – ein seltenes Bild – einmal Grund zum Lachen. Ansonsten regiert das Grauen.

Foto: Warner Bros

Auf diplomatischem Parkett lag die Sache klar auf der Hand. Aber auf den Straßen von Liverpool, Manchester, Sheffield oder London war die Überraschung groß, als die Extrablätter am 4. August 1914 vermeldeten, dass England dem Kaiser den Krieg erklärt. An diesem Punkt eröffnet Peter Jacksons („Der Herr der Ringe“, „Der kleine Hobbit“) persönliche dokumentarische Aufarbeitung jenes Krieges, in dem sein Großvater William als Sergeant kämpfte. Stimmen erklingen aus dem Hintergrund, die aus Tagebüchern und Briefen zitieren. „Es werden Sätze zu hören sein wie „Denken stand Männern nicht zu in jenen Tagen. Man bekam gesagt, was zu tun ist, und dem folgte man dann.“ Ob dem in allen Punkten zu glauben oder zuzustimmen ist, spielt dabei keine Rolle. Die Soldatenperspektive spiegelt die Befindlichkeit vor 105 Jahren, den kollektiven Glauben an einen zivilisierten Krieg; eine Ansicht, die in Deutschland ganz genauso propagiert wurde. Man erlebt die Begeisterung der meist noch minderjährigen Rekruten, den Drill der Ausbildung, die Überfahrt nach Frankreich in Schwarzweiß und jenen etwas abrupten Bewegungen, die unvermeidlich sind bei einer Projektion von 13 Bildern pro Sekunde, wie das in den 1910er Jahren üblich war.

Dann, nach 24 Minuten, zieht das Bild auf. Die Bewegungen werden flüssig und das Bild farbig. Man hört sogar Dialoge, weil Lippenleser aus den digital bereinigten und restaurierten Bildern Sätze destillieren konnten. Und je nach Präsentation ist der Film sogar in 3D zu sehen. Der Effekt ist beachtlich, faszinierend, erschütternd. Denn Farbe und Ton heben die historische Distanz auf. Die Gesichter beginnen zu leben, sie lachen, feixen, paffen Zigaretten, und sie ersterben, wenn die Toten des Krieges ins Bild rücken; zerschossen von Kugeln und Schrapnells, erstickt im Gas oder im Morast Ackerlandes. Peter Jackson treibt das Entsetzen mit bislang unveröffentlichtem Bild- und Tonmaterial aus den Archiven der BBC und des Imperial War Museum beharrlich dem Höhepunkt entgegen, der zwanzigminütigen Sequenz eines Bajonettangriffs gegen kaiserliche Maschinengewehrstellungen. Ein Bild- und Tongewitter aus Film, Propagandaskizzen, Gewehrfeuer und den Schreien der Kämpfenden und Sterbenden. Und dann ist alles vorbei. Peter Jackson hat die vier Jahre des Grabenkrieges auf ein Gefecht komprimiert. Bei einer Spielzeit von etwas mehr als 90 Minuten ist das ein legitimer Schritt zur dramatischen Verkürzung, um heutiger Zuschauerschaft eine Vorstellung von Vernichtungskrieg zu vermitteln. Dass sich solche Scharmützel beinah täglich über mehr als drei Jahre abspielten, entzieht sich dem Fassungsvermögen. Am 11. November 1918 war Schluss. Das Resümee ist einhellig: „Wir hätten nicht gegeneinander kämpfen sollen.“

GB 2018; 99 Min.,Filmhaus (Sb); Regie, Buch: Peter Jackson; Musik: Plan 9; Schnitt: Jabez Olssen.

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