Am Randes eines Nervenzusammenbruchs Am Abgrund gut eingerichtet

✮✮✮✮ „Bernadette“ von Richard Linklater: Schillerndes Porträt einer kraftvollen Frauenfigur.

 Die kreative Unterforderung macht ihr zu schaffen: Cate Blanchett in der Titelrolle als Bernadette.

Die kreative Unterforderung macht ihr zu schaffen: Cate Blanchett in der Titelrolle als Bernadette.

Foto: Universum Film/Wilson Webb

Der Himmel über Seattle ist immer dicht bewölkt, aber ohne ihre Sonnenbrille geht Bernadette (Cate Blanchett) nie aus dem Haus. Die dunklen Gläser sind ihre Rüstung, mit der sie sich vor den Zudringlichkeiten des Alltags schützt. Bernadette liebt ihre Familie, ihren Mann Elgin (Billy Crudup), ihre 15jährige Tochter Bee (Emma Nelson) und auch den Hund Ice Cream. Aber darüber hinaus sind ihr die Mitmenschen ein Graus. Small Talk stellt für die Mittvierzigerin eine unzumutbare Belastung dar.

Bernadette ist eine Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs, die sich am Abgrund gut eingerichtet hat. Auch wenn die Widrigkeiten des Alltags Bernadette oft überfordern, ist sie eine liebe- und verantwortungsvolle Mutter. Mit ihrer Tochter bildet sie eine verschworene Gemeinschaft und es ist immer wieder Bee, die die Mutter mit scharfer Zunge gegen die Anfeindungen der Mitmenschen verteidigt. Die Situation eskaliert, als der Vater eine Psychologin mit nach Hause bringt, die seiner Frau eine Therapie nahe legen soll. In Panik steigt Bernadette aus dem Badezimmerfenster und verschwindet.

Bee macht sich auf die Suche und stößt dabei auf eine Vergangenheit, von der sie nichts ahnte. Vor der Geburt des Kindes war Bernadette nämlich eine gefeierte Star-Architektin, bis ein traumatisches Ereignis sie aus der Bahn warf. „Menschen wie du müssen etwas erschaffen, sonst werden sie eine Bedrohung für die Gesellschaft“ bringt ein alter Freund (Laurence Fishburne) ihren Zustand auf den Punkt.

Mit „Bernadette“ bringt Regisseur Richard Linklater („Before Sunrise“) Maria Semples modernen Briefroman „Wo steckst du Bernadette?“ auf die Leinwand. Die mosaikartige Erzählstruktur der Vorlage wird hier in eher konventionellere Bahnen gelenkt und die Persönlichkeit der exzentrische Protagonistin Stück für Stück freigelegt. Cate Blanchett wirft sich mit Verve in diese Rolle. Man hat sie schon als Königin, Diva und echtes Miststück gesehen und in dieser Bernadette scheinen sich viele ihrer früheren Leinwandcharaktere zu bündeln. Blanchett zeichnet eine kraftvolle Frauenfigur, deren Persönlichkeit sich vor der Kamera immer wieder aufzulösen scheint. Ihre Bernadette ist ein Genie, das im Zustand kreativer Unterforderung vom eigenen Dasein überfordert ist. Lange bevor die Erklärungen des Plots einsetzen, hat Blanchett die widerstrebenden Sehnsüchte ihrer Figur zu einem schillernden Porträt ausgebaut, das allerdings durch ein zwanghaftes Familien-Happy-End in der Zielgeraden etwas an Wirkung verliert.

USA 2019, 111 Min., Camera Zwo (Sb); Regie: Richard Linklater; Buch: Linklater, Holly Gent, Vince Palmo; Kamera: Shane F. Kelly; Musik. Graham Reynolds; Besetzung: Cate Blanchett, Billy Crudup, Kristen Wiig, Emma Nelson.

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