Über den Erschaffer des Supermodel-Mythos Ein Blick hinter die Kamera

✮✮✮ „Peter Lindbergh – Women’ Stories“ von Jean-Michel Vecchiet: gelungene Dokumentation.

       Die Supermodels der 1980er und -90er-Jahre standen alle vor der Kamera von Peter Lindbergh, wie hier Christy Curlington, Cindy Crawford, Linda Evangelista, Naomi Campbell, Tatjana Patitz für die Vogue 1989.   Foto: Peter Lindbergh/StefanRappo

Die Supermodels der 1980er und -90er-Jahre standen alle vor der Kamera von Peter Lindbergh, wie hier Christy Curlington, Cindy Crawford, Linda Evangelista, Naomi Campbell, Tatjana Patitz für die Vogue 1989. Foto: Peter Lindbergh/StefanRappo

Foto: Peter Lindbergh/StefanRappo/Peter Lindbergh/Stefan Rappo

„Nirgends fühle ich mich so fremd wie in meiner Familie. In meinem Land bin ich nur eine Daseinsberechtigung.“

Wer so von sich spricht, ist ein Suchender. In West-Deutschland zu Beginn der 1960er Jahre ist so jemand ein schwieriger Fall. Erst recht, wenn er nur schlechte Schulnoten nach Hause brachte und Ambitionen beerdigt, weil sie nicht zum Gipfel führen oder zu innerer Zufriedenheit.

Peter Lindbergh, der 1944 im Wartheland zur Welt kommt und noch in jüngsten Jahren mit der Familie ins Ruhrgebiet übersiedelt, der künstlerisch tätig sein will und als junger Erwachsener 1962 nach Arles fährt, um dem Leben und Wirken Vincent van Goghs nachzuspüren – dieser Lindbergh wird ein Vierteljahrhundert später das Ruhrgebiet in Schwarzweiß-Bildern ablichten, indem er Mannequins durch Zechen laufen und vor Fördertürmen posieren lässt. Zwei Jahre später wird er auf einem Titelbild der amerikanischen Zeitschrift Vogue den Mythos des Supermodels für die 90er Jahre und danach zementieren.

Peter Lindbergh ist einer der bestbezahlten Fotografen unserer Zeit. Er darf grotesk aufwändige Kulissen aufbauen lassen, in denen er Models und Schauspieler angesichts imaginären Invasionen und sehr konkret ins Bild gerückten Außerirdischen Panik suggerieren lässt. Kaum zu glauben, dass dieser Aufwand betrieben wird, um Fotos für Modezeitschriften zu schießen.

Jean Michel Vecchiet, Franzose, ist Dokumentarfilmer mit der Ambition, ein Filmkünstler zu sein. Es anders machen, dieser Anspruch durchzieht sich mit augenscheinlicher Penetranz durch sein filmisches Lindbergh-Porträt. Sein Ansinnen verrät der Filmtitel. Angehörige, Freundinnen, Wegbegleiterinnen schildern Lebensphasen von Lindbergh. Das Anekdotische ist dabei wesentliches Stilmittel. Lindbergh trifft Beuys, trifft Otto Mühl, ist immer da, wo was los ist. Kann man so machen, hätte man aber auch in der Wikipedia oder andernorts nachlesen können. Die Fakten dringen noch nicht zum Kern eines Begreifens vor. Vecchiet selbst versucht es mit der unmittelbaren Konfrontation. Immerhin darf er Lindbergh bei Aufnahmen filmen, stellt dabei Fragen, aber Antworten bekommt er nicht. Das lässt Rückschlüsse zu, dass es mit der Chemie zwischen den beiden nicht so gut bestellt zu sein scheint. Oder aber immer nur dann gut, solange das Verhältnis an der Oberfläche bleibt. Darüber kann man sich aufregen, durchaus zurecht. Im Gegenzug gibt es einige großartige Zeitdokumente, Impressionen von einem Fotografen bei der Arbeit, ästhetische Entwicklungen im Laufe der Zeit, Tendenzen von Genie und von Größenwahn. Nicht wenig Spektakel für 100 Minuten Film.

Deutschland 2019, 113 Min., Camera Zwo (Sb); Regie, Buch und Kamera: Jean-Michel Vecchiet.

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