Jetzt im Kino Biografisches Melodrama eines Besessenen

✮✮✮✮✮ Neu: „Enfant terrible“ von Oskar Roehler mit einem überragenden Hauptdarsteller.

 Oliver Masucci verkörpert Rainer Werner Fassbinder.

Oliver Masucci verkörpert Rainer Werner Fassbinder.

Foto: Weltkino Filmverleih

Große Fresse und dicke Hose – so rollt Rainer Werner Fassbinder Mitte der 1960er Jahre durch Münchens Garten der Gegenkultur. Er verdreht Frauen den Kopf, mit Männern geht er ins Bett und lässt alle nach seinen Launen springen. Erst macht man zusammen Theater, dann Film. Fassbinder manipuliert Gefühle, erbettelt Geld, liefert im Gegenzug Filme, die attackieren, provozieren, triumphieren. Unaufhaltsam steigt Rainer Werner Fassbinders Stern, aber als er an seine Grenzen stößt, ist er allein.

Der Zuschauer könnte im Zuge von Enfant Terrible auf die Idee kommen, Oskar Roehler hätte mit dem biografischen, schwulen Melodrama eines Besessenen sich selbst bespiegelt. Immerhin geht es um jemanden, der aneckt und Kompromiss nur aus dem Fremdwörterlexikon kennt. Letztlich ist Roehler eine Spur zu vorsichtig, besonnen, bürgerlich, und hat er sein Subjekt um einige Jahre überlebt. Es geht um Fassbinder, der in 13 Jahren 16 Theaterstücke schrieb, 38 Filme und zwei Serien inszenierte; der Liebhaber im Akkord verschliss und sich selbst, weil er Alkohol und Kokain im Exzess konsumierte, bis er im Alter von 37 starb.

Roehler folgt der Chronologie, verfremdet aber Namen und Kulissen, die er auf schieren Bühnenminimalismus reduziert. Er holte zahlreiche Schauspielprominenz vor die Kamera und einen Hauptdarsteller, der dem historischen Vorbild auf den ersten Blick nicht ähnelt. In den ersten Momenten wirkt das verstörend, dann wirft die Faszination den Turbo an und es ist glatt unfassbar wie traumwandlerisch sicher Roehler seine Figuren und Situationen immer aufs Neue auf den Punkt bringt und dabei unverschämt unterhaltsam durchleuchtet. Alle spielen denkwürdig gut, aber die Sensation ist Oliver Masucci, der sich seit „HERRliche Zeiten“ wie selbstverständlich von einer Großtat zur nächsten aufschwingt und hier buchstäblich zu Fassbinder wird, als cholerischer Widerling mit Wampe gleichermaßen betört und abstößt, bis er den Moment größter Einsamkeit und Verunsicherung in einer Sterbeszene einfängt, die so anrührend intensiv ausgestaltet ist, dass man sie nicht mehr vergessen wird. Ob das alles wirklich so wahr, spielt keine Rolle. Dieser Film ist eines Fassbinders würdig.

D 2020, 135 Min., Camera Zwo (Sb); Regie: O. Roehler; Buch: K. Richter, Roehler; Besetzung: O. Masucci, H. Prinz, K. Riemann.

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