Jüdisches Erbe einer multikulturellen Stadt

Breslau · Vor dem Zweiten Weltkrieg besaß Breslau die drittgrößte jüdische Gemeinde in Deutschland. Heute gehört die Stadt zu Polen. Das jüdische Erbe Breslaus ist für viele Touristen ein bewegendes Thema.

 Blick vom Turm der Elisabethkirche auf den Großen Ring, Breslaus mittelalterlichen Marktplatz. Foto: POT

Blick vom Turm der Elisabethkirche auf den Großen Ring, Breslaus mittelalterlichen Marktplatz. Foto: POT

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Wroclaw, so heißt Breslau heute. Die polnische Bezeichnung hat den deutschen Namen abgelöst, nachdem Schlesien 1945 unter polnische Verwaltung gestellt wurde. Darum trägt nun auch die frühere Wallstraße den Namen "ulica Wlodkowica". Einst lag sie mitten im jüdischen Viertel der Stadt, eine Gegend, die für heutige Breslau-Besucher ein ausgesprochen attraktives Aus-flugsziel darstellt.

Ältestes Gotteshaus

Ihr besonderes Interesse gilt der Synagoge unter dem Weißen Storch. Das älteste jüdische Gotteshaus der Stadt wurde 1874 an der Stelle eines Lokals mit dem Namen "Unter dem Weißen Storch" erbaut. 2010 ist die Synagoge mit einer leuchtend hellen klassizistischen Fassade wiedereröffnet worden. Weil sie eng von anderen Gebäuden umstanden ist, haben die Nazis sie 1938 zwar nicht angezündet, anders als die Neue Synagoge, die zu den größten in Deutschland gehörte. Aber auch die Synagoge unter dem Weißen Storch wurde schwer beschädigt: Die Nazis zerstörten ihre Fassade und nutzten das Innere als Autowerkstatt und Warenlager. In den 1990er Jahren war die Synagoge baufällig, das Dach offen. Nach aufwendigen Restaurationsarbeiten ist sie heute wieder Gotteshaus und Kulturzentrum. Und in diesem Jahr, in dem Breslau von der EU den jährlich vergebenen Titel der Kulturhauptstadt Europas erhalten hat, ist sie auch Veranstaltungs- und Ausstellungsraum.

Aus dem Alltag des jüdischen Lebens in der Stadt ist das Gotteshaus nicht mehr wegzudenken: "Es gibt in dem Gebäude daneben eine koschere Kantine. Viele Gemeindemitglieder kommen zum Essen hierher", erzählt Alexander Gleichgewicht, der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde und Ehemann von Bente Kahan. Die nach ihr benannte Stiftung hat sich jahrelang dafür eingesetzt, dass wieder Leben in die Synagoge einkehrt. Diese wird aktuell für Theateraufführungen für Kinder, Workshops zu jüdischer Musik, Sommerkonzerte und Vorträge genutzt. Und die Dauerausstellung zur Geschichte der Juden in Breslau ist äußerst sehenswert.

Der ehemalige Palast

Im Städtischen Museum im ehemaligen Palast der preußischen Könige gibt es ebenfalls eine kleine Ausstellung zur jüdischen Geschichte: Fotos jüdischer Breslauer gehören dazu, die in den Jahren vor der Nazizeit im öffentlichen Leben oft eine wichtige Rolle spielten.

Zu den Sehenswürdigen Breslaus gehören auch die beiden Jüdischen Friedhöfe: Der Alte Jüdische Friedhof an der Slezna-Straße ist als "Museum der Friedhofskunst" Teil des Breslauer Stadtmuseums. Der Neue Jüdische Friedhof in der Lotnicza-Straße ist weniger bekannt, aber gerade für Ahnenforscher sehr interessant. Auf dem 1902 angelegten Areal befinden sich zahlreiche Gräber deutschstämmiger Juden . Der Friedhof ist zu großen Teilen verwildert, doch etliche Grabsteine wurden inzwischen von Nachkommen der Bestatteten erneuert.

Direkt an der ulica Wlodkowica gelegen ist das Jüdische Informationszentrum, kurz CIZ. Im zugehörigen Café können Touristen Erfrischungen und koscheren Kuchen bekommen. Außerdem gibt es hier Literatur zur jüdischen Kultur.

Nur drei Minuten zu Fuß entfernt stand das Jüdisch-Theologische Rabbinerseminar, im 19. Jahrhundert über die deutschen Grenzen hinaus berühmt. Breslau galt damals als ein Zentrum des Reform-Judentums. Auch diese Institution wurde zerstört. Schlimmer noch: Tausende Menschen der jüdischen Gemeinde Breslaus wurden ermordet. Vor 1939 lebten hier 22 000 Juden , heute sind es rund 300. Ihre Spuren aber sind weiterhin sichtbar - und das jüdische Leben der Stadt blüht wieder auf.

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