Die wahre Geschichte des Rattenfängers

Hameln · Seit nunmehr 700 Jahren ist die Stadt Hameln von einer alten Grimmschen Sage umrankt. Doch was steckt wirklich dahinter?

 Der Rattenfängerbrunnen erinnert an die berühmteste Figur der Stadt. Foto: Hameln Marketing und Tourismus GmbH/dpa

Der Rattenfängerbrunnen erinnert an die berühmteste Figur der Stadt. Foto: Hameln Marketing und Tourismus GmbH/dpa

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Die Ratten sind los. Sie weisen in Bronze den Weg zu den schönsten Sehenswürdigkeiten der Altstadt, dienen in knallroter Farbe als Werbeträger für Geschäfte oder versüßen die Auslage beim Bäcker. Das freut alle, die für die berühmte alte Sage nach Hameln gekommen sind. Doch es ärgert Michael Boyer. Er ist der einzige hauptamtliche Rattenfänger von Hameln und wurde von der Tourismuszentrale auserkoren, die wahre Geschichte zu erzählen. Und die hat mit Ratten nichts zu tun.

"Es geht nicht um die Ratten, es geht um die Kinder", betont Boyer bei seinem einstündigen Rundgang. Die Spurensuche startet an den dicken Mauern der Marktkirche und ihrem romanischen Rundfenster, das den Rattenfänger, die Kinder, aber keine einzige Ratte zeigt. Dazu habe es früher eine lange Inschrift gegeben, die in dem Rat mündete: "Folge dem Pfeifer nicht, das führt ins Verderben".

Nach einer alten Sage der Gebrüder Grimm folgten Hamelns Kinder vor 700 Jahren einem unheimlichen Flötenspieler und waren nie wieder gesehen. Das war die Rache des Rattenfängers. Er sollte die Stadt im Jahre 1284 von einer Rattenplage befreien und dafür einen Lohn erhalten. Doch nachdem der Fremde alle Ratten mit seinem Flötenspiel in die Weser trieb, blieb ihm der Lohn verwehrt.

Boyer hebt theatralisch die Stimme. Gehasst habe man ihn, den Rattenfänger, weil er in den Augen der Mächtigen den leibhaftigen Teufel verkörperte, gegen den man sich mit ebenso machtvollen wie symbolreichen Bauten habe schützen wollen, erklärt der Fremdenführer. Dabei sei er doch in Wirklichkeit nichts weiter gewesen als ein musizierender Fremder, der die Kinder mit seinen Melodien verzückte.

Die Führung ist angekommen in der Bungelosenstraße, einer Gasse, über die der Nachwuchs der Stadt im Jahr 1284 die Stadtgrenze in Richtung Osten ein für alle Mal überschritten hat, wie eine historische Inschrift am gegenüberliegenden Rattenfängerhaus bezeugt. Zum Zeichen der Trauer darf in der Straße seitdem weder getanzt noch musiziert werden. "Das respektieren die Hameler bis heute", sagt Boyer. Wenn der gebürtige Amerikaner allerdings seine zweite Heimat beschreibt, schlägt er weniger düstere Töne an. Dann geht es um schnuckelige, kleine Fachwerkhäuser, Wälder, Sonnenuntergang am Schiffsanleger und eine Insel. "Das ist hier vor allem beschaulich und gemütlich."

Das sehen Radreisende, die den gesamten Weser-Radweg von Hannoversch Münden über Hameln bis Cuxhaven in wenigen Tagen abfahren wollen, bisweilen anders. Sie wollen Strecke machen und haben für Schlösser, Burgen und Märchengestalten am Wegesrand oft zu wenig Zeit einkalkuliert. Wer auf dem Radweg rund um die Fachwerkstadt Höxter unterwegs ist, kann noch vereinzelt in weißer Sprayschrift auf dem Weg zum Weltkulturerbe lesen. Gemeint ist das Unesco-Weltkulturerbe Schloss Corvey. Die Benediktinerabtei am Weserbogen war im Frühmittelalter ein bedeutendes geistig-politisches Zentrum mit einer einzigartigen Klosterbibliothek. Heute nehmen Besucher in bunten Trikots und kurzen Radsporthosen ehrfurchtsvoll den Helm ab, wenn sie das Westwerk der ehemaligen Reichsabtei betreten. Oder sie machen ein Selbstporträt mit der Büste von August Hoffmann von Fallersleben, Corveys prominentestem Bibliothekar.

Wer Zeit und Muße mitbringt, kann in den ehemaligen Stallungen der barocken Schlossanlage am Kloster übernachten und am Folgetag den Drahtesel für ein paar Stunden gegen ein Kanu eintauschen. "Das hier ist ein magischer Ort", sagt Kalle Krome, der auf Schloss Corvey ein Kanu-Zentrum betreibt. Paddeln ist für ihn ein wenig wie Pilgern. Und nach den ersten Weserschleifen wird klar, was er meint: Die Kraft der Strömung bringt einen auch ohne große Anstrengungen voran. Und in der Früh ist man alleine mit ein paar Reihern und Enten unterwegs.

Für Krome ist die Weser das ideale Paddelrevier, 135 Kilometer freier Lauf mit einer kanufreundlichen Infrastruktur. Nur ein paar Ausflugsdampfer und Fähren sind zu sehen, beispielsweise die Gierseilfähre in Polle, die allein mit der Kraft des Wassers unterhalb der Burgruine aus dem 13. Jahrhundert bewegt wird. Die märchenhafte Kulisse ist im Sommer zudem Freilichtbühne für Aschenputtelfans.

Es lohnt sich, den Radweg, der überwiegend auf der Ostseite der Weser entlang führt, auch mal zu verlassen. Beispielsweise für das Weser-Renaissance-Schloss Hämelschenburg zwischen Hameln und Bad Pyrmont, das sich mit seinen Erkern, Türmen und Zinnen prachtvoll in die Hügellandschaft einfügt. Es ist seit einem halben Jahrtausend im Besitz der Familie von Klencke, die das Rittergut selbst bewohnt und ein Teil der Räumlichkeiten für Führungen freigegeben hat.

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 Der gebürtige Amerikaner Michael Boyer ist der einzige hauptamtliche Rattenfänger. Foto: Hameln Tourismus/dpa

Der gebürtige Amerikaner Michael Boyer ist der einzige hauptamtliche Rattenfänger. Foto: Hameln Tourismus/dpa

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Die Stadt Hameln und ihre Ratten Jeden Sonntag von Mitte Mai bis Mitte September wird zur Mittagszeit in der Hameler Altstadt auf der Hochzeitshaus-Terrasse der Rattenfänger auf einer Freilichtbühne aufgeführt. Wer will, kann sich mittwochs das Musical Rats anschauen. Beide Veranstaltungen sind kostenlos. Nach dem Musical haben Besucher außerdem die Möglichkeit, an einer Stadtführung teilzunehmen. Infos zu weiteren Führungen gibt es unter: www.hameln.de

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