Neue Coolness Belgrad betört – auf den zweiten Blick

Belgrad · Die serbische Hauptstadt gilt als Europas neue Hipster-Hochburg. Ihren Charme entfaltet die Metropole langsam, aber unweigerlich.

 In Belgrad gibt es Bauten aus vielen historischen Epochen. Eine Bootstour verschafft Überblick. Hier ist etwa der Turm der Kathedrale des heiligen Erzengels Michael zu sehen.

In Belgrad gibt es Bauten aus vielen historischen Epochen. Eine Bootstour verschafft Überblick. Hier ist etwa der Turm der Kathedrale des heiligen Erzengels Michael zu sehen.

Foto: Dragan Obric/Tourist Organization of Belgrade/Dragan Obric

Was einem am Flughafen von Belgrad zuerst auffällt, ist der Geruch. Stickig, muffig. Wo kommt er her? Aus den Toilettenkabinen. Da stehen Frauen auf Pfennigabsätzen und mit viel Lippenstift und qualmen. An anderen Flughäfen bekommen Reisende grüne Smoothies und vegane Snacks. In Serbiens Hauptstadt schlägt einem erst einmal Zigarettenrauch entgegen. Ist das die Metropole, die gerade häufig als Geheimtipp gefeiert wird?

Belgrad soll jetzt cool sein. Wild und billig wie Berlin nach der Wende, ein Insider-Tipp auf dem Balkan. Also schnell hin und sich ein eigenes Bild machen – oder am besten gleich einen ganzen Film. Wer noch nie im früheren Jugoslawien war, kann die Reise nach Belgrad mit einem Kinobesuch vergleichen: Man kann auswählen, was man sehen will. Von Dolce Vita zum Historiendrama ist vieles möglich, Popcorn inklusive.

Doch erst einmal ist da Tristesse. Vor dem Flughafen wartet das Taxi. Die Fahrt ins Zentrum fühlt sich an wie eine Zeitreise in die Vergangenheit. Sie führt vorbei an gigantischen Betonkonstruktionen und schier endlosen Plattenbauten. Kalt wirken sie, diese Glanzstücke des Brutalismus, einem Architekturstil aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Häufig wurde Belgrad zerstört und wieder aufgebaut. Übrig blieb ein Mix aus allem, was in den vergangenen Jahrhunderten gebaut wurde: Prachtwerke im neoklassizistischen Stil, Jugendstilvillen, Überreste des osmanischen Reichs. Belgrad ähnelt einer Filmkulisse.

Dazu passt, dass es an jeder Ecke Popcorn gibt. Alle paar Hundert Meter stehen kleine Buden, die vom Jahrmarkt stammen könnten. Auch die ausrangierten Klimaanlagen an den Hauswänden, die kreuz und quer hängenden Stromkabel und die bröckelnden Fassaden sind auf ihre eigene Art pittoresk.

Spätestens an dieser Stelle ist es Zeit, über Ada zu reden, die künstliche Halbinsel, deren vollständige Bezeichnung Ada Ciganlija lautet. Einheimische empfehlen diesen Ort auf die Frage, wo der Eindruck vom Belgrader Leben möglichst authentisch sei. Etwa zehn Minuten sind es mit dem Taxi vom Stadtzentrum zu der Halbinsel, die in Belgrad Strandgefühl möglich machen soll. Der Rundweg um den See, in dem das Eiland angelegt wurde, führt an zahlreichen Buden und Restaurants vorbei. „Im Sommer wird es richtig heiß, locker 35 Grad“, sagt Radovan Pesic. Gemeinsam mit seinem Bruder betreibt er das „Tropical Heat“, benannt nach der US-Krimiserie aus den Neunzigern. „Damals in Serbien der Hit schlechthin“, sagt Pesic und wirft die Popcorn-Maschine an. Tatsächlich drängt sich hier das Gefühl auf, in einem Neunziger-Film steckengeblieben zu sein. „Wenn ich ehrlich bin, viel hat sich nicht verändert“, sagt Pesic. Seit mehr als 20 Jahren ist er schon auf Ada, zwischendrin war er sechs Jahre weg. Russland, Südafrika, Zypern. Irgendwann habe es ihn wieder zurückgezogen, sagt er. So wie viele andere auch, die nach dem Krieg das Weite suchten. „Belgrad hat eine seltsame Anziehungskraft.“

„Immer mehr Menschen wollen die Stadt zurück auf die Weltkarte bringen“, sagt Luka Lazukic. Seine Stimme ist rauchig, die Haare sind nach hinten gegelt. Seine Müdigkeit versteckt der IT-Unternehmer hinter einer XXL-Sonnenbrille. „In die Szene kommst du nicht einfach so rein. Aber wenn du einmal drin bist, entdeckst du ein anderes Belgrad unter der Oberfläche“, sagt Lazukic im Szene-Restaurant „5A Soba“. Viele hätten die Stadt nach dem Krieg verlassen, um ihr Geld in New York und anderen Metropolen zu verdienen. „Jetzt bringen sie die Trends zurück.“ Unter die einheimischen Unternehmer mischen sich Geschäftstüchtige aus den umliegenden Staaten wie Bosnien und Montenegro, die Belgrad zum kreativen Schmelztiegel des Balkans machen.

Wer Geld hat, ist in Belgrad König. Doch jene, die keines haben, kommen auch. Internationaler Flughafen, bezahlbare Mieten und Inspiration an jeder Hauswand: Die Balkan-Metropole zieht gerade wegen ihrer Kontraste Kreative aus aller Welt an. Der älteste Stadtteil Dorcol sei vergleichbar mit dem Hipster-Bezirk Williamsburg in New York, sagt Lazukic. „Früher war es die gefährlichsten Ecke, jetzt ist es cool.“

Wer einmal den Blick dafür geschärft hat, sieht plötzlich überall Beispiele für Belgrads neue Coolness: Concept-Stores, Vintage-Läden, Co-Working-Spaces. Im Beogradski Market sitzen junge Digitalarbeiter mit aufgeklappten Laptops. In der 1000 Quadratmeter großen Industriehalle finden sich Designer-Läden, Floristen, eine Craft-Bier-Destillerie und vegane Imbisse. Von Tristesse keine Spur mehr. Läuft hier ein anderer Film?

In einem Land, in dem auf der politischen Bühne oft ein absurdes Theater aufgeführt werde, fingen viele Zuschauer an, ihre eigenen Stücke zu schreiben, sagt die Sängerin Maja Louis. „Die Politik benimmt sich so, als ob die Menschen dumm wären.“ Ihr Vater „Louis“ war bis zu seinem Tod ein gefeierter Musiker auf dem Balkan. Inzwischen ist auch Maja Louis ein bekannter Name in der Szene. Was die Künstlerwelt betrifft, sei die serbische Hauptstadt vergleichbar mit Berlin, sagt sie.

 Reisekarte Belgrad

Reisekarte Belgrad

Foto: SZ/Steffen, Michael

Ist dies nun also der Ort, den Reisende im Internet als Geheimtipp Europas feiern? In gewisser Weise ja. Doch Belgrad muss niemand feiern. Die Stadt feiert sich selbst. „24 Stunden, von Montag bis Sonntag“, sagt Louis. Vielleicht ist Belgrad doch kein Melodram, sondern ein Liebesfilm. Aber eben auf den zweiten Blick.

(dpa)
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