Corona und Justiz im Saarland Eine Frage der Abwägung zwischen dem Schutz der Allgemeinheit und der Freiheit des Einzelnen

Saarbrücken/Saarlouis · Die freiheitlich demokratische Grundordnung ist eine ständige Suche nach einem vernünftigen Kompromiss. Auf der einen Seite steht die Freiheit des Einzelnen. Auf der anderen Seite steht der Schutz von Leib, Leben und damit auch der Freiheit der anderen. Im Zweifel entscheidet die Justiz. Dazu ein Überblick.

 Die Kamera eines Fotografen vor dem Bild einer Justitia. Symbolfoto.

Die Kamera eines Fotografen vor dem Bild einer Justitia. Symbolfoto.

Foto: dpa/Friso Gentsch

Noch laufen die Sommerferien in vielen Bundesländern und die Urlauber sind unterwegs. Trotzdem steigen die Corona-Zahlen bereits wieder und die Angst vor einem zweiten Lockdown wie im Frühjahr geht um. Damals wusste man relativ wenig über das Virus. Die Regierungen in Bund und Ländern griffen deshalb ab März vorsorglich massiv durch. Besonders auch im Saarland.

Heute weiß man mehr. Und es gibt eine ganze Serie von Entscheidungen der Gerichte in Sachen Covid 19. Darin geht es immer (auch) um eine Abwägung zwischen der Freiheit des Einzelnen, die durch die Corona-Maßnahmen eingeschränkt wird, und den Rechten der anderen auf Schutz von Leib, Leben und Freiheit. Im demokratischen Rechtsstaat muss zwischen diesen widerstreitenden Interessen immer und immer wieder ein Kompromiss gefunden werden, der beiden Seiten gerecht wird. Das ist nicht einfach. Aber anders geht es nicht. Denn die Entscheidung von heute baut auf der Entscheidung von gestern auf und ist zugleich die Basis der Entscheidung von morgen.

Der bislang wichtigste Beschluss in Sachen Corona im Saarland kam vom Verfassungsgerichtshof am 28. April. Darin kippten die Richter zum Teil die bis dahin geltende Ausgangssperre. Diese forderte einen triftigen Grund für das Verlassen des Hauses und untersagte beispielsweise das Verweilen auf einer Parkbank zum Entspannen oder Lesen. Im Text der Entscheidung werden die Richter grundsätzlich und definieren mit Leitsätzen die Messlatte für Einschränkungen von Grundrechten wegen Corona. Demnach gilt: Die Ausübung eines Grundrechts bedürfe keiner Rechtfertigung. Vielmehr müsse die Einschränkung eines Grundrechts gerechtfertigt werden. Dabei sei nachvollziehbar abzuwägen zwischen der Tiefe des Eingriffs einerseits und andererseits dem Ausmaß und der Wahrscheinlichkeit der drohenden Gefahr, zu deren Abwendung die Einschränkung erfolgt. Und weiter: Eingriffe in das Grundrecht der Freiheit der Person - wie Ausgangsbeschränkungen - bedürften einer begleitenden Rechtfertigungskontrolle. Je länger sie wirken, desto höher müssten die Anforderungen an ihre Begründung sein.

Ergebnis mit Blick auf die damalige Ausgangssperre: Der Verfassungsgerichtshof habe festgestellt, dass die von der Landesregierung zur Eindämmung der Corona-Pandemie getroffenen Maßnahmen im März geboten waren - und zwar in Hinblick auf die Grenzlage des Saarlandes zu dem von der Corona-Pandemie besonders schwer betroffenen Frankreich und angesichts der im Vergleich zu anderen Teilen Deutschlands besonders hohen Infektionszahlen. Die mit der Ausgangsbeschränkung verbundenen Grundrechtseingriffe müssten allerdings Tag für Tag auf ihre Verhältnismäßigkeit überprüft werden. Aktuell bestünden insoweit keine belastbaren Gründe für die uneingeschränkte Fortdauer der strengen saarländischen Regelung. Die Ausgangssperre sei deshalb zu lockern, um Begegnungen in Familien sowie das Verweilen im Freien - unter Wahrung der notwendigen Abstände und unter Beachtung der Reduzierung von Kontakten - zu ermöglichen.

Die obersten Richter des Saarlandes sehen also einen relativ weiten Spielraum der Behörden bei Maßnahmen zu Beginn der Krise. Wobei sich dieser Spielraum durch den Zeitablauf mit dem Zuwachs an neuen Erkenntnissen verengt. Zu Beginn der Krise war also vieles möglich, weil man es nicht besser wusste. Je mehr man aber weiß, desto präziser muss eine Einschränkung von Grundrechten formuliert und begründet werden. Bei Bedarf ist sie den aktuellen Gegebenheiten anzupassen.

Den Anfang hat dabei das Verwaltungsgericht Saarlouis gemacht. Es musste bereits Ende März über die damals ganz neuen Corona-Maßnahmen in Gestalt einer Allgemeinverfügung entscheiden. Es hat den Eilantrag eines Bürgers gegen diese Allgemeinverfügung (die später zur Corona-Verordnung wurde) abgewiesen. Begründung. Die Regelungen der Exekutive zum Schutz gegen die Ausbreitung des neuartigen, hochinfektiösen Corona-Virus seien nicht offensichtlich rechtswidrig. Sie seien insbesondere nicht unverhältnismäßig. Im Rahmen einer Folgenabwägung habe das private Interesse des Antragstellers hinter dem öffentlichen Interesse an einem wirksamen Gesundheitsschutz der Bevölkerung des Saarlandes zurückzutreten.

Es folgte eine Reihe von Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts in Saarlouis, die sich mit den Folgen der jeweils aktuellen Corona-Maßnahmen in einzelnen Fallkonstellationen befassen. Den Anfang machten Ende April zwei Beschlüsse gegen die Betreiber von Gastronomiebetrieben. Diese hatten sich dagegen gewehrt, dass sie wegen Corona ihre Betriebe bis Anfang Mai schließen mussten. Die Anträge wurden abgewiesen. Nach Auffassung des Oberverwaltungsgerichts hielten sich die - zeitlich begrenzten - Einschränkungen im Rahmen der verfassungsrechtlichen Schranken für solche Grundrechtseingriffe. Die mit der Verordnung verfolgten Ziele einer Eindämmung des Infektionsgeschehens mit dem Corona-Virus aus Gründen des Gesundheitsschutzes und der Sicherstellung der Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesen im Saarland stellten ein überragendes Gemeinwohlinteresse dar, dem gegenüber die Interessen der Antragstellerinnen zurückstehen müssten.

Ähnlich argumentierte das Oberverwaltungsgericht (OVG) Ende April im Fall großer Kaufhäuser mit mehr als 800 Quadratmetern Verkaufsfläche. Mit Blick auf deren gemischtes Warenangebot, deren Attraktivität für Kunden und die Ansteckungsgefahr bei erhöhtem Besucheraufkommen lehnte es den entsprechenden Eilantrag von Galeria Kaufhof/Karstadt gegen die Corona-Verordnung ab. Ganz anders im Fall eines großen Möbelhauses. Hier sah das Oberverwaltungsgericht keine so hohe Ansteckungsgefahr und kippte das entsprechende Verbot. Auch die Betreiber eines großen Sportgeschäftes hatten vor Gericht Erfolg. Ende April kippte das Verwaltungsgericht die Begrenzung auf 800 Quadratmeter Verkaufsfläche. Es sah für diese Begrenzung in dem Sportgeschäft keinen sachlichen Grund. Dies gelte insbesondere mit Blick auf die nicht mit Einschränkungen belegten Buchhandlungen oder die privilegierten Fahrradhändler.

Im Fall mehrerer Fitnessstudios bestätigte das Oberverwaltungsgericht dagegen Ende April die Corona-Maßnahmen wegen der möglichen Ansteckungsgefahr. Begründung: Gemäß der Verordnung sei der Betrieb von Einrichtungen verboten, die nicht zu notwendigen Verrichtungen des täglichen Lebens dienen. Hierzu zählten insbesondere auch Fitnessstudios. Beim Betrieb von Fitnessstudios könne es selbst in dem Fall, dass diese von Kunden ohne Begleitung aufgesucht werden, regelmäßig zu einer Vielzahl von Kontakten kommen. Durch die Art der sportlichen Betätigung in geschlossenen Räumen sei außerdem regelmäßig der verstärkte und weiterreichende Ausstoß von möglicherweise infektiösen Aerosolen (= feine Verteilung fester oder flüssiger Stoffe in Gasen oder in der Luft) konkret zu befürchten.

Auch den Antrag eines Bürgers gegen Maskenpflicht und (damalige) Kontaktbeschränkungen wiesen die OVG-Richter Mitte Mai ab. Begründung: Die Verpflichtung bei der Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs, während des Aufenthalts in Ladenlokalen und auf Wochenmärkten sowie beim Besuch von Krankenhäusern und Arztpraxen eine Mund-Nasen-Bedeckung anzulegen, stelle grundsätzlich als „flankierende Maßnahme“ ein geeignetes und notwendiges Mittel zur Eindämmung der weiteren Verbreitung des Corona-Virus dar. Insoweit sei nicht festzustellen, dass die „Maskenpflicht“ zu einer unangemessenen Belastung des betroffenen Bürgers führe. Sie bringe für den Träger einer Maske nur in wenigen, kurzzeitigen Alltagssituationen Unannehmlichkeiten mit sich. Das gelte auch für die damaligen, heute weitgehend entfallenen oder anders geregelten Kontaktbeschränkungen.

Im Zuge weiterer Lockerungen der Corona-Maßnahmen wehrte sich die Betreiberin eines Bordells gegen das Verbot der Erbringung sexueller Dienstleistungen sowie der Ausübung des Prostitutionsgewerbes. Sie verwies auf ihr umfangreiches Hygienekonzept und sah eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung im Verhältnis zu anderen körpernahen Dienstleistern wie Friseuren, Nagelstudios, Kosmetikstudios und Massagesalons. Die OVG-Richter folgten dieser Argumentation jedoch nicht und wiesen ihren Eilantrag Anfang Juni ab. Sie hielten das Hygienekonzept für ungeeignet zur wesentlichen Reduzierung des erhöhten Infektionsrisikos. Deshalb sei das Verbot weiterhin verhältnismäßig. Anders als bei anderen „körpernahe Dienstleistungen“ sei eine effektive Kontrolle der Einhaltung der Vorgaben und der Sicherstellung einer Nachverfolgung bei Auftreten von Infektionsfällen bei realistischer Betrachtung nicht zu gewährleisten. Der Schutz der Gesundheit nicht erkrankter Menschen sei vorrangig.

Mehr Erfolg hatten Ende Juni die Betreiber von Shisha-Bars, die ihre Betriebe wie viele andere auch Mitte März hatten schließen müssen. Sie sahen eine Ungleichbehandlung darin, dass mittlerweile zwar Lockerungen für die Gastronomie galten, aber nicht für ihre Betriebe. Das Oberverwaltungsgericht gab ihnen Recht und erlaubte den Betrieb der Shisha-Bars im Saarland wieder. Begründung: Ein tragfähiger Grund für die Ungleichbehandlung von Shishabars gegenüber Gaststätten lasse sich nicht feststellen. Der Infektionsgefahr in Shisha-Bars könne mittels eines besonderen Hygienekonzepts, wie dies in einigen Bundesländern bereits praktiziert werde, begegnet werden.

Ähnlich argumentierten die OVG-Richter auch Anfang August mit Blick auf die Ausübung der Prostitution in kleinerem Umfang. Hier gaben sie dem Eilantrag der Betreiberin eines solchen Betriebes gegen das generelle Verbot des Erbringens sexueller Dienstleistungen sowie der Ausübung des Produktionsgewerbes statt. Begründung: Das generelle Verbot berücksichtige nicht die Besonderheiten kleinerer Prostitutionsstätten, in denen eine Begegnung zwischen den Kunden ausgeschlossen und zudem der Kontakt auf eine Dienstleisterin pro Kunde beschränkt ist. Hier habe die Betroffene zur Vermeidung von Infektionen ein auf die konkreten Verhältnisse ihres „überschaubaren“ Betriebs bezogenes umfangreiches Hygienekonzept vorgelegt und erläutert.

Ende August war wieder der Verfassungsgerichtshof am Zug. Ein Bürger - der bereits vor dem Oberverwaltungsgericht mit seinem Anliegen gescheitert ist - wehrte sich dort mit einer Verfassungsbeschwerde gegen die Maskenpflicht und die Nachverfolgung von Sozialkontakten. Der Verfassungsgerichtshof bestätigte daraufhin in seinem Beschluss vom 28. August zwar die bestehende Maskenpflicht als verhältnismäßig und verfassungsgemäß. Gleichzeitig stuften die Richter jedoch die Kontaktverfolgung in ihrer aktuellen Form als verfassungswidrig ein. Durch die entsprechende Vorschrift werde die Erhebung persönlicher Informationen nicht nur im Rahmen von Gaststättenbesuchen geregelt, sondern auch beispielsweise beim Besuch von Gottesdiensten, politischen und gesellschaftlichen Zusammenkünften. Vor diesem Hintergrund sei die Verpflichtung zur Gewährleistung einer Kontaktnachverfolgung durchaus geeignet, Bürgerinnen und Bürger von der Ausübung grundrechtlicher Freiheiten entscheidend abzuhalten und Bewegungs- und Persönlichkeitsprofile zu erstellen. Damit handele es sich um einen gravierenden Eingriff in die entsprechenden Grundrechte. Ein solcher Eingriff dürfe aber grundsätzlich nicht per Rechtsverordnung durch die Exekutive geregelt werden. Ein so schwerwiegender Eingriff müsse vielmehr von der Legislative im Parlament diskutiert und entscheiden werden.

Die Begründung der bislang jüngsten Entscheidung zum Thema Corona und Grundrechte liest sich wie ein Lehrbuch über die freiheitlich demokratische Grundordnung. Sie ist nun die im Saarland gültige Messlatte für den Umgang mit Grundrechten in Zeiten der Krise. Motto: In Eilfällen ist zunächst einmal die Exekutive (Regierung und Verwaltung) gefordert. Sie kann auf der Basis geltender Gesetze die geeigneten, erforderlichen und angemessenen Maßnahmen ergreifen. Diese müssen aber regelmäßig auf ihre Rechtmäßigkeit geprüft werden. Und bei allen gravierenden Eingriffen in die Grundrechte der Bürger ist an erster Stelle der Gesetzgeber gefordert. Das Parlament muss immer wieder den Rahmen abstecken, in dem sich die Exekutive bewegen darf. Gleichzeitig und parallel dazu wird die Einhaltung der Regeln von den Gerichten als dritter Staatsgewalt geprüft und bewertet. Die Ergebnisse der Justiz fließen wiederum in die Arbeit von Legislative und Exekutive ein. Und so weiter. So funktioniert der demokratische Rechtsstaat mit seiner Gewaltenteilung. Als ein flexibles System, das immer und immer wieder versucht, eine vernünftige und gerechte Lösung zu finden.

(Anmerkung: Der Text stammt ursprünglich vom 15. August 2020 und wurde nach der jüngsten Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs vom 28. August aktualisiert. Er versteht sich als Fortsetzung einer Reihe früherer Texte zum Thema Corona, Grundrechte und Gewaltenteilung.)

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