Strafprozess wegen Kindesmisshandlung Stell Dir vor: Ein kleiner Junge wird gequält .... Und keiner hilft ihm

Saarbrücken · Rund 14 Jahre lang soll eine Saarländerin ihren Stiefsohn geschlagen, gequält, misshandelt und vernachlässigt haben. Erst als der 17-Jährige von zu Hause weg lief, habe das Ganze aufgehört. Jetzt wurde die Stiefmutter zu sechs Jahren Haft verurteilt.

 Auch in der eigenen Familie werden Kinder zum Opfer von Gewalt. Symbolfoto.

Auch in der eigenen Familie werden Kinder zum Opfer von Gewalt. Symbolfoto.

Foto: picture alliance / dpa/Patrick Pleul

Wegen schwerer Misshandlung eines Kindes hat das Landgericht Saarbrücken eine mehrfache Mutter aus dem Saarland zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Nach Feststellung der Richter hat die heute 53 Jahre alte Frau ihren Stiefsohn jahrelang regelmäßig geschlagen, misshandelt, gedemütigt und vernachlässigt, während der leibliche Vater des Kindes weggeschaut habe. Der Mann (54) wurde wegen Verletzung seiner Fürsorgepflicht für seinen Sohn zu einer Strafe von einem Jahr Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Spätestens nach einem Besuch des Jugendamtes bei der Familie, wo es um mögliche Misshandlungen des damals 15 Jahre alten Jungen durch die Stiefmutter gegangen war, hätte der Vater genauer hinsehen und sich um seinen Sohn kümmern müssen.

Mit 17 Jahren läuft der Junge von zu Hause weg

Die teils massiven Übergriffe gegen das Kind – die von beiden Angeklagten bestritten werden – sollen begonnen haben, als der kleine Junge vier Jahre alt war. Sie endeten demnach erst in dem Moment, als der zwischenzeitlich 17 Jahre alte Jugendliche von zu Hause weglief. Daraufhin lebte er zunächst einige Tage auf der Straße, bis ein früherer Klassenkamerad ihn zufällig entdeckte und zum Jugendamt brachte. Damals hatte der Jugendliche das Aussehen eines Elfjährigen, so das Ergebnis der umfangreichen Beweisaufnahme vor Gericht. Bei ärztlichen Untersuchungen wurden nach seiner Flucht die Folgen einer jahrelangen Mangelernährung diagnostiziert. Außerdem wurden Narben, frühere Knochenbrüche und bis heute sichtbare körperliche Veränderungen entdeckt, die laut Gerichtsmedizin auf eine jahrelange schwere Misshandlung des Kindes hindeuten.

Als Zeuge vor Gericht schildert er ein Martyrium

„Ich kann mich erinnern, dass ich von klein auf geschlagen wurde“, sagte der junge Mann dazu ganz ruhig und gefasst als Zeuge vor Gericht. Er berichtete von Schlägen mit der flachen Hand, von Tritten und von Würgen. Er erzählte davon, wie er mit dem Kopf an die Wand, mit Holzscheiden auf den Kopf und auf die Knie geschlagen worden sei. Und er schilderte viel heftigere Misshandlungen, die hart an der Grenze des Erträglichen für die Zuhörer im Gerichtssaal waren. Warum er so geschlagen, misshandelt und gedemütigt worden sei, dass konnte er nicht sagen. „Ich war nie vorlaut oder frech. Das hätte ich mich nie getraut.“

Besonders schlimm, wenn der Vater nicht zu Hause war

Das Ganze sei in der Regel passiert, wenn sein Vater die Woche über auf Montage war. „Wenn er zu Hause war, hat sich meine Stiefmutter zurückgehalten.“ Dann sei auch das Essen besser gewesen. Nicht wie sonst, wo er häufig Haferflocken mit Wasser, Essensreste der anderen oder verschimmelte Lebensmittel bekommen habe. Und wenn der Vater am Wochenende nach sichtbaren Verletzungen oder blauen Flecken fragte, dann habe die Stiefmutter geantwortet: „Er war ungezogen. Er hat gestohlen. Er hat gelogen.“ Was dies zu bedeuten habe? Antwort des jungen Mannes vor Gericht: „Gestohlen war, weil ich Hunger hatte und Essen aus dem Kühlschrank oder dem Müll geholt habe. Gelogen war, weil ich das dem Vater gesagt habe. Dann wurde ich bestraft.“

Kleiner trauriger Junge in viel zu großen Kleidern

Auch in der Schule habe er gestohlen, so der Zeuge weiter. Er habe die Schulbrote von Mitschülern geklaut – obwohl er immer selbst ein Schulbrot von zu Hause mitbekam. Das habe er gegessen und die Brote der anderen habe er gebunkert – für Notfälle. Überhaupt die Schule: Wenn seine blauen Flecken besonders schlimm waren, habe er dort nicht hingehen dürfen. Und seinen Pulli habe er nie ausziehen, nie kurze Hosen tragen dürfen. Eine Zeugin aus jener Zeit beschrieb das vor dem Landgericht so: „Er war immer super klein und traurig. Hat viel zu große Kleider mit Flecken getragen.“

Mitschülerin bringt den Jungen zum Jugendamt

Einer Mitschülerin fiel der traurige Junge auf und sie wusste, wo man Hilfe bekommen kann. Also brachte sie den damals 15 Jahre alten Jugendlichen zum Jugendamt. Dort erzählte er von seinem Leben, von der Misshandlung und der Vernachlässigung. Auch seine Halbgeschwister würden ihn schlagen, sagte er. Aber die Stiefmutter würde dies unterbinden und sagen: Sie wisse, wie man das macht, ohne dass es blaue Flecken gebe.

Die Heiligen Vier Wände – nichts dringt nach außen

Das Amt reagierte sofort und zwei Mitarbeiter suchten die Familie auf. Dort wurden sämtliche Vorwürfe zurückgewiesen, sämtliche Indizien durch mehr oder weniger mögliche Ursachen erklärt. Motto: Schwieriges Kind, Hinfallen, Probleme mit dem Wachsen, Probleme mit den Geschwistern. Ergebnis: Das Jugendamt hielt telefonisch Kontakt zu der Familie. Und der Junge blieb dort. Daraufhin sei es eine Zeitlang besser gewesen, erzählte er als Zeuge vor Gericht. Aber dann sei es richtig schlimm geworden. Und: „Oberste Priorität war, dass nichts von dem nach außen dringt, was in den heiligen vier Wänden passiert.“

Warum kam die Hilfe für den Jungen nicht früher?

„Die heiligen vier Wände – was hier passiert, das bleibt drin. Und wenn Besuch kam, dann wurde eine heile Welt vorgespielt. “ Wieso konnte dies so lange funktionieren? Warum hat nicht früher jemand dem kleinen Jungen geholfen? Seit Beginn des Prozesses im April 2017 und an jedem der fast 20 Sitzungstage ging es auch um diese Fragen. Eine befriedigende Antwort darauf wurde nicht gefunden. Mehrere Faktoren scheinen eine Rolle gespielt zu haben. Da ist zum einen die redegewandte Hauptangeklagte, die nach eigener Aussage vor der Zeit mit dem Stiefsohn über Jahre als Tagesmutter insgesamt 17 Kinder betreut hat, die ihr vom Jugendamt vermittelt worden seien. Sie müsste also wissen, wie die Kontrolle durch ein Jugendamt funktioniert.

Ein verstreutes Mosaik an Beobachtungen

Und dann sind da die vielen Zeugen aus dem Umfeld der Familie, aus dem Jugendamt, aus der Schule, dem medizinischen Bereich. Dazu meinte die Staatsanwältin in ihrem Schlussplädoyer: Viele der Zeugen hatten nach eigener Aussage „ein ungutes Gefühl“ mit Blick auf den Jungen. Sie hatten einzelne Beobachtungen gemacht, aber nicht gewusst, was die anderen wissen. Und niemand habe sich als die Person gesehen, die den Stein ins Rollen bringt.

Also passierte nichts. Bis zu dem Zeitpunkt, als der Jugendliche flüchtete und zum zweiten Mal Hilfe von einem Mitschüler bekam. Danach wurde das Mosaik Stück für Stück zusammengesetzt. Und die vielen Beobachtungen der Leute, die Erzählungen des jungen Mannes und die Narben seines Körpers ergaben zusammen ein Bild. Sie alle bestätigen die Vorwürfe der Anklage, so das Fazit des Landgerichts. Deshalb seien beide Angeklagten zu verurteilen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Es wird erwartet, dass die Angeklagten Revision zum Bundesgerichtshof einlegen.

Warum ein Geständnis der Stiefmutter eine geringere Strafe garantiert hätte? Die Antwort lesen Sie hier.

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