Missbrauch und Gewalt: Wie der Schrecken die Kinderseelen lähmt

Saarbrücken · Traurig aber wahr: Wenn die Opfer von Gewalt und sexuellen Übergriffen besonders Schlimmes ertragen mussten, dann wird es oft besonders schwierig, die Täter zu überführen. So das Fazit von Experten in Saarbrücken.

Saarbrücken. "Was sollen wir den Menschen glauben, die uns berichten, sie seien Opfer von Gewalt geworden - und was nicht?" Mit dieser Frage müssen sich regelmäßig Mitarbeiter von Arztpraxen, Kindergärten, Frauenhäusern, Kliniken, Beratungsstellen, Schulen, Sportvereinen, Ämtern, Kirchen, Polizei oder Justiz befassen. Viele von ihnen trafen sich nun auf Einladung der Koordinierungsstelle gegen Häusliche Gewalt zur Fachtagung "Gewalt -Trauma - Glaubhaftigkeit". Zu ihrem 10. Geburtstag hatte die bundesweit vorbildliche Stabstelle unter Leitung von Marion Ernst rund 180 Praktiker eingeladen, um zu diskutieren, wie man Opfern helfen und Täter dingfest machen kann.

Die Teilnehmer kamen mit konkreten Fragen aus ihrem Alltag zum Justizministerium. Beispiel: "Gestern war ein Mädchen bei uns und hat berichtet, wie sie regelmäßig sexuell missbraucht wurde." Aber: "Ich weiß nicht, ob ich ihr das glauben kann. Sie wirkte so gefasst. So ganz ohne Emotion. Als habe sie das gar nicht erlebt." Schweigen im Saal. Diese oder ähnliche Situationen kannte jeder aus eigener Erfahrung. Aber wie geht man mit so etwas um? Wo ist die zuverlässige Messlatte, um die Glaubhaftigkeit eines möglichen Opfers und damit die Schuld des möglichen Täters einzuschätzen? Und wie kann man dem Mädchen helfen?

Zwei Experten lieferten dazu in ihren Vorträgen erste Antworten. So betonte die Psychotherapeutin Dorothee Lappehsen-Lengler, Leiterin der Lebensberatungsstelle des Bistums Trier: "Seelische Verletzungen durch Gewalt können geheilt werden." Es gebe verschiedenste Formen der Therapie. Der Ansatzpunkt sei bei allen gleich: "Gewalt traumatisiert die Opfer." Bei besonders lang anhaltender und besonders intensiver Verletzung seien die Folgen besonders stark. Das Opfer erlebe eine "Ohnmacht und ein Gefühl des Ausgeliefertseins, die schwer zu ertragen sind". Folge: Die Ohnmacht werde mit allen Mitteln verdrängt und verleugnet. Das gehe manchmal so weit, dass die Opfer von Gewalt selbst Gewalt gegen (noch) Schwächere ausüben. Und so weiter. Eine Spirale der Gewalt, die zu durchbrechen sei.

Grundvoraussetzung dafür ist aber, dass über die Gewalt oder auch den sexuellen Missbrauch etwas nach außen dringt. Und dabei gibt es nach Einschätzung von Medizinprofessor Jörg Fegert ein Problem: Gerade die betroffenen Kinder würden sich nicht an die Polizei, den Staatsanwalt, den psychiatrischen Gutachter oder andere Spezialisten wenden. "Sie wenden sich an den Praktikanten, an die Nachwache im Krankenhaus oder andere", so der Leiter der Jugendpsychiatrie der Uniklinik Ulm. Die Kinder würden dies tun, weil die innere Distanz zu diesen Leuten nicht so groß sei. Und weil diese Leute Zeit zum Zuhören hätten. Sein Tipp: Das Zuhören sei in solchen Momenten extrem wichtig. Möglichst nicht fragen, reden lassen und alles genau aufschreiben oder dokumentieren. Das sei später eine gute Basis für die Bewertung der Angaben durch Fachleute.

Bei dieser Bewertung sei zu beachten, das es - grob vereinfacht - zwei Arten von Traumatisierung gebe. Bei dem einen Typ sei meist ein einmaliger, schwerer Übergriff die Ursache. Hier seien die Opfer erkennbar emotional betroffen und würden sich an fast jedes Detail des einmaligen, schlimmen Geschehens erinnern. Ganz anders sei dies beim zweiten Trauma-Typ - meist verursacht durch lang andauernde, häufige schwere Übergriffe. Hier hätten die schwer traumatisierten Betroffenen vieles verdrängt und würden sich oft schlecht an Details erinnern. Zudem würden die Betroffenen oft emotional unbeteiligt wirken, so als hätten sie das Ganze gar nicht selbst erlebt. Der Grund: Um nicht unterzugehen, hätten sie ihre Emotionen völlig vom äußeren Geschehen und der Erinnerung daran abspalten müssen. Wenn also - wie eingangs berichtet - ein Mädchen ohne jegliche Emotion von schweren sexuellen Übergriffen berichte, dann könne ihre Schilderung dennoch richtig sein. Möglicherweise sei das Ganze nämlich so schlimm gewesen, das der Schrecken des Erlebten die Gefühle des Opfers gelähmt habe.

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