Grundsatzurteil aus Karlsruhe Stacheldraht über Feldweg gespannt: Gemeinde und Jagdpächter müssen für Unfall haften

Karlsruhe · Wenn Feldwege von Radfahrern benutzt werden dürfen, dann hat dort ein über den Weg gespannter, kaum sichtbarer Stacheldraht nichts zu suchen. Wer sich an diese Regel nicht hält, der muss nach einem Unfall haften.

  Ein Mountainbike-Fahrer auf einer Gelände-Strecke im Wald bei München. Symbolfoto.

Ein Mountainbike-Fahrer auf einer Gelände-Strecke im Wald bei München. Symbolfoto.

Foto: dpa/Tobias Hase

Mit welchen Hindernissen muss ein Radfahrer auf einem Feldweg rechnen und deshalb auf Sicht bremsbereit sein? Der Bundesgerichtshof in Karlsruhe hat dazu in zwei Grundsatzurteilen vom 23. April 2020 klargestellt, dass ein Radfahrer grundsätzlich nicht mit einem quer über einen Feldweg gespannten, ungekennzeichneten Stacheldraht rechnen muss. Deshalb treffe ihn auch kein Mitverschulden an einem Unfall, soweit er seine Fahrgeschwindigkeit auf ein solches Hindernis nicht eingestellt hat, aus diesem Grund zu spät bremst und stürzt.

Im konkreten Fall ging es um einen Offizier der Bundeswehr, der bei einem Sturz mit dem Fahrrad schwer verletzt wurde. Er ist seitdem querschnittgelähmt. Der Soldat und die Bundesrepublik Deutschland als sein Dienstherr machen dafür die für den Feldweg zuständige Gemeinde und zwei Jagdpächter verantwortlich. Sie werfen ihnen eine Verletzung ihrer Verkehrssicherungspflichten vor und fordern in ihren Klagen bei Gericht insgesamt Schadensersatz in Millionenhöhe.

Damit zu den Einzelheiten des Unfalles auf dem Feldweg, der die Zivilgerichte durch alle Instanzen beschäftigt hat. Der Kläger hatte am Nachmittag des 15. Juni 2012 mit seinem Mountainbike eine Radtour unternommen. Gegen 17.00 Uhr bog er von einer für den Kraftfahrzeugverkehr gesperrten Straße in den unbefestigten Feldweg ab. Nach ungefähr 50 Meter befand sich auf dem Weg eine Absperrung. Diese bestand aus zwei in der Mitte des Weges stehenden, vertikal nach unten auf den Boden gerichteten Holzlatten. An den Latten war ein Sperrschild für Kraftfahrzeuge befestigt. Die ganze Konstruktion wurde durch zwei waagerecht verlaufende verzinkte Stacheldrähte in der Höhe von etwa 60 und 90 Zentimetern gehalten. Diese Drähte waren ihrerseits seitlich des Feldweges an Holzpfosten befestigt, die im Unterholz standen. An einem dieser Holzpfosten konnten die Stacheldrähte gelöst werden, um die Absperrung zu öffnen.

Die Absperrung war Ende der 1980er-Jahre mit Zustimmung der beklagten Gemeinde durch den damaligen Jagdpächter errichtet worden. Der ehemalige Bürgermeister der Kommune hatte circa zwei- bis dreimal pro Quartal nach der Konstruktion gesehen. Die beiden anderen Beklagten waren die am Unfalltag verantwortlichen Jagdpächter des Niederwildreviers. Sie nutzten den Feldweg regelmäßig, um zu einer Wiese hinter der Absperrung zu gelangen. Dort stand ein mobiler Hochsitz/Jagdwagen.

Damit zu dem Radfahrer an jenem Tag im Juni. Als der spätere Kläger die über den Feldweg gespannten Stacheldrähte bemerkte, führte er eine Vollbremsung durch. Es gelang ihm aber nicht, sein Mountainbike rechtzeitig vor der Absperrung zum Stehen zu bringen. Der Mann stürzte - links des Verkehrszeichens - kopfüber in das Hindernis. Dort blieb er mit seiner Kleidung hängen und konnte sich nicht mehr bewegen. Stunden später, gegen 19.20 Uhr, bemerkte ihn einer der Jagdpächter, der zufällig vorbeikam. Er alarmierte Rettungsdienst und Polizei. Durch den Sturz erlitt der Radfahrer einen Bruch des Halswirbels und als Folge eine komplette Querschnittslähmung unterhalb des vierten Halswirbels. Er ist seit dem Unfall dauerhaft hochgradig pflegebedürftig und bedarf lebenslang einer querschnittslähmungsspezifischen Weiterbehandlung mit kranken-, physio- und ergotherapeutischen Maßnahmen. Das Wehrdienstverhältnis endete zum 31. März 2014; seitdem ist der Mann Versorgungsempfänger.

Der Verletzte verlangt deshalb von den Beklagten ein in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld von mindestens 500.000 Euro. Die Bundesrepublik Deutschland verlangt Ersatz diverser Zahlungen an den Geschädigten gemäß Soldatenversorgungsgesetz, wegen stationärer Behandlungskosten, wegen Kostenerstattungen für Heil- und Hilfsmittel sowie von Behandlungs- und Pflegeleistungen in Höhe von 582.730,40 Euro. Außerdem verlangen die beiden Kläger jeweils die Feststellung. dass die drei Beklagten auch für alle künftig auftretenden Schäden haften müssen. Insgesamt fordern die Kläger also mehr als eine Million Euro. Sie machen geltend, dass die Gemeinde als Eigentümerin des Feldweges und die Jagdpächter ihre Verkehrssicherungspflichten verletzt hätten. Für den Geschädigten sei die Absperrung mit dem Draht nämlich erst aus einer Entfernung von höchstens acht Metern erkennbar gewesen.

Das Landgericht Lübeck hat die Klagen im Jahr 2016 als unbegründet abgewiesen. Die Kläger legten Berufung ein. Daraufhin hat das Oberlandesgericht Schleswig im Jahr 2017 das Urteil erster Instanz teilweise abgeändert und den Klagen nur zum Teil stattgegeben. Es ging von einem überwiegenden Mitverschulden des Radfahrers an dem schweren Unfall in Höhe von 75 Prozent, weil dieser zu schnell unterwegs gewesen sei, nicht rechtzeitig vor dem Hindernis habe bremsen können und dann viel zu stark reagiert habe, was zu einem Überschlag führte.

Der Bundesgerichtshof hat diese Linie nicht bestätigt. Er hat die beiden Urteile des Oberlandesgerichts aufgehoben und die Sachen zur neuen Verhandlung und Entscheidung dorthin zurückverwiesen. In der Begründung befassen sich die höchsten deutschen Zivilrichter unter anderem mit dem Umfang der Verkehrsicherungspflicht bei Feldwegen, mit dem Sichtfahrgebot und mit einem möglichen Mitverschulden von Radfahrern bei Sturz-Unfällen durch die Nutzung sogenannter Klick-Pedale.

Die Bundesrichter im Einzelnen: Mit Recht habe das Oberlandesgericht eine schuldhafte Verletzung der Verkehrssicherungspflichten durch die Beklagten bejaht. Ein quer über einen für die Nutzung durch Radfahrer zugelassenen Weg gespannter, nicht auffällig gekennzeichneter Stacheldraht sei im wörtlichen wie auch im rechtlichen Sinne verkehrswidrig. Ein solches Hindernis sei angesichts seiner schweren Erkennbarkeit und der daraus sowie aus seiner Beschaffenheit folgenden Gefährlichkeit völlig ungewöhnlich und objektiv geradezu als tückisch anzusehen, so dass ein Fahrradfahrer hiermit nicht rechnen müsse.

Für diesen verkehrspflichtwidrigen Zustand hafte die Gemeinde als Trägerin der Straßenbaulast. Die Haftung der Jagdpächter folge daraus, dass die Absperrung von einem früheren Jagdpächter in dieser Eigenschaft errichtet worden war, um eine Ruhezone für das Wild zu schaffen. Die jetzigen Jagdpächter hätten mit der Übernahme der Jagdpacht das Recht erworben, dieses Drahthindernis, das ihnen bekannt war, weiterhin zu benutzen. Hierdurch hätten sie aber auch die Verpflichtung übernommen, für die Verkehrssicherheit auf dem Weg zu sorgen.

Damit zum angeblichen Mitverschulden des Klägers an dem Unfall wegen nicht angepasster Geschwindigkeit. Hier lehnte der Bundesgerichtshof die Sichtweise des Oberlandesgerichts ab und sah in diesem Punkt kein Mitverschulden beim Kläger. Begründung: Der Radfahrer habe entgegen der Ansicht des Oberlandesgerichts nicht gegen das Sichtfahrgebot verstoßen. Dieses Gebot verlange zwar, dass der Fahrer vor einem Hindernis, das sich innerhalb der übersehbaren Strecke auf der Straße befindet, anhalten kann. Es gebiete aber nicht, dass der Fahrer seine Geschwindigkeit auf solche Objekte einrichtet, die sich zwar bereits im Sichtbereich befinden, die jedoch - bei an sich übersichtlicher Lage - aus größerer Entfernung noch nicht zu erkennen sind.

Dies betreffe etwa Hindernisse, die wegen ihrer besonderen Beschaffenheit ungewöhnlich schwer erkennbar sind oder deren Erkennbarkeit in atypischer Weise besonders erschwert ist und auf die nichts hindeutet. Anderenfalls dürfte sich der Fahrer stets nur mit minimalem Tempo bewegen, um noch rechtzeitig anhalten zu können. Um ein solches schwer erkennbares Hindernis handele es sich im vorliegenden Fall. Daran änderte auch das an den Drähten angebrachte, mit nach unten auf den Boden gerichteten Holzlatten versehene Verkehrsschild nichts. Im Gegenteil. Es erwecke vielmehr den Eindruck, der Weg sei für Fahrradfahrer frei passierbar.

Der Bundesgerichtshof weiter: Vor diesem Hintergrund ergebe sich auch kein Mitverschulden des Radfahrers daraus, dass er laut Oberlandesgericht auf das Hindernis fehlerhaft reagiert habe, was zum Überschlag des Fahrrads führte. Die falsche Reaktion eines Verkehrsteilnehmers stelle nämlich dann keinen vorwerfbaren Obliegenheitsverstoß dar, wenn der Betroffene in einer ohne sein Verschulden eingetretenen, für ihn nicht vorhersehbaren Gefahrenlage keine Zeit zu ruhiger Überlegung gehabt habe. Und wenn er deshalb nicht das Richtige und Sachgerechte unternommen habe, um den Unfall zu verhüten, sondern aus seinem verständlichem Erschrecken heraus objektiv falsch reagierte.

Allerdings - so das Fazit der Bundesrichter - könne sich im konkreten Fall ein Mitverschulden des Klägers daraus ergeben, dass er auf dem unbefestigten und unebenen Feldweg statt der "normalen" Fahrradpedale sogenannte Klickpedale nutzte. Dies könnte allerdings allenfalls ein Mitverschulden von 25 Prozent rechtfertigen. Hierzu werde nun das Berufungsgericht noch weitere Feststellungen zu treffen haben. Auf die Revisionen des Klägers und seines Dienstherrn hin seien die beiden Verfahren daher an das Oberlandesgericht zurückverwiesen worden. So der Bundesgerichtshof (Az.: III ZR 250/17 und III ZR 251/17).

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