Wie Gerichte die Welt beurteilen Beweisregeln: Wer ist eigentlich schuld, wenn es im Straßenverkehr kracht?

München · Wer mit seinem Auto von hinten auf ein anders knallt, der ist schuld am Unfall. Diese altbekannte und einprägsame Regel gilt zwar oft – aber nicht immer. Dazu unser Rechts-Tipp.

 Autos und Lichter auf einer Straße. Symbolfoto.

Autos und Lichter auf einer Straße. Symbolfoto.

Foto: picture alliance / Oliver Berg/d/Oliver Berg

Richter sind keine Hellseher. Trotzdem müssen sie regelmäßig über Ereignisse urteilen, bei denen sie nicht selbst dabei waren. Also brauchen sie Regeln, mit deren Hilfe sich die möglichen Abläufe rekonstruieren lassen. Eine dieser Regeln befasst sich mit dem so genannten Anscheinsbeweis. Das bekannteste Beispiel dafür stammt aus dem Bereich des Straßenverkehrs und regelt die Schuld an einem Auffahrunfall. Motto: Wer auffährt, der ist in der Regel schuld. Diesen Satz kennt jeder. Aber es gibt noch zwei weitere juristische Grundsätze, die immer (!) zu beachten sind. Nämlich: Keine Regel ohne Ausnahme. Und: Es kommt immer auf die Umstände des konkreten Einzelfalles an.

Diese drei Grundsätze werden bei Gericht ständig angewandt und auf der Waage der Justitia im Detail gegeneinander abgewogen. Beispielsweise in einem Urteil des Amtsgericht München( Az.: 331 C 28375/12) . Es ging um einen Auffahrunfall. Um einen Auffahrunfall nach einem Fahrspurwechsel des Vordermannes. Die Einzelheiten: Im September 2012 gerieten in München ein PKW und ein Reisebus aneinander. Der Personenwagen fuhr zunächst auf der linken Spur und wechselte bei einer Fahrbahnverengung auf die rechte Spur. Dort befand sich der Bus, der auf das Auto fuhr. Der Halter des Autos verlangte daraufhin Ersatz des Schadens von der Versicherung des Busses.

Die zuständige Amtsrichterin wies die Klage jedoch ab. Begründung: Bei Unfällen durch Auffahren spreche zwar der erste Anschein für ein Verschulden des Auffahrenden. Dieser erste Anschein werde aber dann erschüttert, wenn derjenige, der aufgefahren ist, einen atypischen Verlauf darlegen und auch beweisen könne. Dann erscheine die Frage des Verschuldens unter Umständen in einem anderen Licht.

Dies könne beispielsweise bei einem Auffahrunfall nach einem plötzlichen Spurwechsel des Vordermanns der Fall sein. Gemäß Straßenverkehrsordnung verlange nämlich jeder Fahrstreifenwechsel des Vordermannes die Einhaltung äußerster Sorgfalt, so dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen ist. Folge: Ereignet sich die Kollision zweier Fahrzeuge in einem unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit einem Fahrstreifenwechsel des vorausfahrenden Verkehrsteilnehmers, so drehe sich der Anscheinsbeweis praktisch um. Denn nun spreche der Beweis des ersten Anscheins unter dem Strich dafür, dass der Spurwechsler gegen die vorgenannten Pflichten verstoßen und damit den Unfall verursacht und verschuldet hat. So wie im konkreten Fall. Er ist ein Musterbeispiel dafür, wie Juristen von einer Regel ausgehen, die Ausnahme davon definieren und dann auf Basis der konkreten Umstände des Falles zu einem Ergebnis kommen.

Unsere Rechts-Tipps: Im Alltag stellen sich viele rechtliche Fragen. Die Gerichte haben sie oft bereits beantwortet. Wir suchen nach dem passenden Fall in unserem Archiv von Recht-Spezial und liefern so die Antworten auf aktuelle Fragen.

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