Grundrechte in der Corona-Krise Ein Land zwischen Sicherheit und Freiheit

Saarbrücken · Die Polizei zeigte Präsenz. Der Innenminister und die Medien waren auch da. Das war das Wochenende von Palmsonntag im Saarland. Es war kein Einsatz gegen Terror oder Hass. Es ging um Menschen, die ohne triftigen Grund unterwegs waren oder in der Sonne saßen. Das machte diese Bürger zum Sicherheitsrisiko.

 Zwei Polizeibeamte mit Schutzweste. Symbolfoto.

Zwei Polizeibeamte mit Schutzweste. Symbolfoto.

Foto: dpa/Silas Stein

„Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren (Benjamin Franklin).“ Diese von Hand geschriebenen Zeilen stehen auf einem kleinen Zettel, der an seinen vier Ecken jeweils mit einem kleinen Stück Kohleschlacke beschwert ist. Der Wind, die feuchte Luft am Morgen und die Sonne am Tag haben dem Papier zu schaffen gemacht. Aber noch liegt es da. Mitten auf einer hölzernen Ruhebank hoch oben am Rundwanderweg über die frühere Bergehalde in Landsweiler-Reden. Es ist eine Bank in einer ruhigen, windgeschützten Ecke, die Sonne von vorne mit einem traumhaften Blick über den Wald, die Hügel und die angrenzenden Orte. Es ist ein Platz zum Innehalten, zum Nachdenken über sich selbst und die Welt, zum Ruhe finden, zum Kraft tanken, zum die Zeit genießen. Aber genau das ist jetzt bei Strafe verboten. Per Allgemeinverfügung und Rechtsverordnung der Landesregierung dürfen die Saarländer nur noch aus „triftigen Grund“ ihr zu Hause verlassen. Sie dürfen spazieren gehen für die Gesundheit, mit dem Hund raus zum Gassi-Gehen und sich kurz zur Erholung hinsetzen. Aber nicht zu lange. Zum Nachdenken über die Welt in Zeiten des Corona-Virus, über Sicherheit und Freiheit, über Grundrechte und Polizei oder über die Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative reicht das nicht.

Das Nachdenken über diese Dinge scheint aus Angst vor dem Virus in Zwangspause geschickt worden zu sein. In Notzeiten schlägt eben die Stunde der Macher. Auf der Ebene des Staats betrifft dies in erster Linie die Exekutive. Die Behörden haben deshalb aus guten Gründen die rechtliche Erlaubnis, die zur Abwendung einer konkreten Gefahr erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. Das gilt auch in der aktuellen Corona-Pandemie. Wenn es notwendig ist, dann dürfen die Behörden durch (geeignete, erforderliche und angemessene) Eilmaßnahmen auch Grundrechte der Bürger (möglichst wenig) einschränken. Und genau das ist seit März zur Eindämmung der Krankheit bundesweit immer wieder geschehen. Geschäfte wurden geschlossen, der Zugang zu manchen öffentlichen Bereichen wurde streng reglementiert, Kontaktverbote zwischen Menschen und ein allgemeines Gebot des Abstandhaltens wurden eingeführt. Das war in aller Regel notwendig und hat Sinn. Denn Corona wird über Tröpchen- und Schmierinfektion übertragen. Und bei zwei Metern Abstand zwischen den Menschen kommt das Virus nicht weiter. Das ist gut so und rettet Menschenleben.

Aber es gibt Bundesländer wie das Saarland, denen diese Maßnahmen nicht reichen. Sie setzen noch einen drauf und haben faktisch Ausgangssperren mit Ausnahmen verhängt, die sie als Ausgangsbeschränkungen definieren. Im Saarland ist dazu geregelt: „Das Verlassen der eigenen Wohnung … ist nur bei Vorliegen triftiger Gründe erlaubt." Es folgt ein Katalog mit Beispielen für solche wichtigen Gründe und der Satz: „Im Falle einer Kontrolle sind die triftigen Gründe jeweils glaubhaft zu machen.“ Im passenden Bußgeldkatalog ist zudem festgehalten, dass beim Verlassen der Wohnung ohne triftigen Grund pro Person ein Bußgeld von bis zu 200 Euro fällig wird. Und die Exekutive will diese von ihr beschlossenen Einschränkung von Grundrechten ihrer Bürger auch konsequent durchsetzen. Oder wie es der Innenminister vor dem Palmsonntag-Wochenende mit Blick auf das schöne Wetter und die Saarländer formuliert hat: „Der geringste Verstoß kostet sofort viel Geld. Wir haben angesichts der vielen Toten und der Gefährdungslage keine Zeit zu diskutieren.“

Also wird über diese landesweite Ausgangssperre auch nicht diskutiert. Nicht darüber, ob die Exekutive in Gestalt der Landesregierung diese Zwangsmaßnahme aktuell überhaupt (noch) aufrechterhalten darf. Schließlich gibt es einen so genannten Parlamentsvorbehalt im Grundgesetz, wonach bei wesentlichen Einschränkungen von Grundrechten das Parlament, also die Legislative, zwingend eingebunden werden muss. Dafür scheint aber im Saarland keine Zeit zu sein. Das gilt auch für die Diskussion über die Frage, ob eine Ausgangssperre überhaupt ein geeignetes und damit erlaubtes Mittel zur Eindämmung einer Pandemie ist. Andere Bundesländer sehen das anders und haben keine Ausgangssperre mit Strafandrohung. Ihrer Ansicht nach geht es um die Vermeidung eines zu engen Kontaktes zwischen den Menschen im privaten und im öffentlichen Raum. Es geht also beim Corona-Virus nicht darum, ob jemand sein Haus verlässt oder nicht. Dadurch, dass jemand auf den Gehweg tritt, wird schließlich niemand mit dem Virus angesteckt. Erst recht nicht in den vielen eher ländlichen Regionen des Saarlandes, wo aus jedem Wohnhaus zur gleichen Zeit jemand auf die Straße treten kann und alle Menschen trotzdem automatisch mehr als zwei Meter auseinander stehen. Warum braucht man dort einen triftigen Grund, um das Haus verlassen zu dürfen? Eine stichhaltige Antwort auf diese Frage fällt schwer. Und der Verweis auf das Nachbarland Frankreich mit seiner Ausgangssperre hilft hier auch nicht weiter. Denn das Grundgesetz mit seinen strengen Vorgaben zum Schutz der Bürgerrechte in Deutschland gilt im Nachbarland Frankreich bekanntlich nicht.

Trotzdem könnte es einen triftigen Grund für diese spezielle Form der saarländischen Ausgangssperre geben. Er hat nicht unbedingt etwas mit Corona und der Bekämpfung einer Pandemie zu tun. Sondern mit dem Polizeirecht und der Erleichterung der täglichen Arbeit der Ordnungskräfte im Saarland. Diese war vor Corona nicht immer einfach. Die Grundrechte der Bürger machten es den Beamten oft schwer. Schließlich – das ist der Grundgedanke unseres freiheitlichen Rechtsstaates – dürfen Grundrechte der Bürger letztlich nur eingeschränkt werden, um damit (meist überwiegende) Grundrechte anderer Bürger zu schützen. Die Bürger in Gestalt jedes einzelnen sind das Maß aller Dinge, die der Staat zu schützen hat. Die Polizei darf deshalb grundsätzlich Menschen nur unter strengen Voraussetzungen in ihren Rechten einschränken, sie anhalten, kontrollieren, nach dem Ausweis fragen oder festhalten. Wie hoch diese Hürden sind, zeigt ein beliebtes Beispiel aus der Jura-Ausbildung. Darin geht es um einen Mann mit Rucksack, der nachts in einer Gegend unterwegs ist, wo es Wohnungseinbrüche gab. Darf die Polizei ihn anhalten und kontrollieren? Die Antwort: Grundsätzlich eher nicht - im konkreten Fall kommt es aber auf die Umstände an. Denn jeder hat das Recht mit oder ohne Rucksack irgendwo unterwegs zu sein. Auch nachts. Erst wenn es konkrete Anhaltspunkte für eine mögliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gibt, sind polizeiliche Maßnahmen möglich. Für solche Maßnahmen – die immer verhältnismäßig sein müssen – gibt es eigentlich nur zwei Gründe: die Abwehr konkreter Gefahren für die Öffentliche Sicherheit und Ordnung sowie die Aufklärung von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten.

Vor diesen Hintergrund macht die Sache mit der Ausgangssperre im Saarland plötzlich Sinn. Es macht Sinn, von den Menschen einen triftigen Grund fürs Rausgehen einfordern zu können, diesen Grund bei Kontrollen abfragen zu lassen und ein mögliches Fehlverhalten zu sanktionieren. Damit ist jede Bürgerin, jeder Bürger zu einem Sicherheitsrisiko geworden. Er kann im öffentlichen Raum jederzeit gefragt werden, was er warum an diesem Ort tut. Die Personalien können festgestellt werden. Seine Gründe können abgewogen und für gut oder schlecht befunden werden. All dies dient bei der aktuellen Rechtslage der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit sowie dem Aufklären von Ordnungswidrigkeiten. Schließlich geht es um Menschenleben. Das Polizeirecht ist per Verordnung der Exekutive so einfach geworden in Zeiten von Corona. Ganz ohne den Gesetzgeber. Ganz ohne große öffentliche Diskussion in Politik, Gesellschaft und Medien. So schnell kann es gehen. Und plötzlich ist die Freiheit der Menschen nur noch ein von Hand geschriebenes Wort auf einem alten Stück Papier.

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