Ein Hoch auf das Entrümpeln 10.000 Gegenstände bestücken normalen deutschen Haushalt – jetzt muss (fast) alles raus!

Meinung · Manche setzen freiwillig auf Minimalismus, andere müssen sich beschränken, weil der Platz fehlt. Und die Schweden begegnen der Verlustangst auf ganz eigene Weise. Ein Hoch auf das Entrümpeln.

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Erst das Porzellan? Oder die Bücher? Oder doch die Schallplatten aus den 80er-Jahren, die irgendjemand in Gedanken an verträumte Nachmittage aufbewahrt haben muss? Man kann ihn anfassen, den materiellen Überfluss. Gut 10.000 Gegenstände bestücken Statistikern zufolge einen durchschnittlichen deutschen Haushalt; ganze 180 sollen es vor hundert Jahren gewesen sein. Wie auch immer: Gerade die westdeutsche Wohlstandsgesellschaft war über Jahrzehnte willkommenes Warenlager für anschwellende Ansammlungen.

Und wer kennt nicht Sätze wie „Das kann ich oder XY irgendwann noch mal gebrauchen“ oder „Das hat damals viel Geld gekostet“?

Viel Gehegtes und Vergessenes in Familien drückt an die Oberfläche

„Da kann man nichts machen“, ließe sich ebenso floskelhaft entgegnen. In vielen Familien drückt der unvermeidliche Generationswechsel Gehegtes und Vergessenes an die Oberfläche. Und längst nicht überall finden sich Wohlwollen und Verwendung für die Dias von 1974, für Erinnerungsstücke, Pepita-Sakkos, Pelz und Loden, das 36-teilige Kaffeeservice aus dem Saarland – gern in den Serien „Wildrose“ oder „Burgenland“. In randvollen Regalen, Vitrinen, Schränken, Kellern und Garagen ebenso fürsorglich geschont wie die fabrikneue Küchenmaschine (zum Geburtstag 1985, „oder war das ‘84?“) und die Bettwäsche samt Preisschildern in D-Mark mit den Signets längst erloschener regionaler Fachgeschäfte.

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Sic transit gloria mundi – So vergeht der Ruhm der Welt

Sic transit gloria mundi – So vergeht der Ruhm der Welt. Dabei standen wohlmöblierte Dachböden und Kammern immer doch auch für ein romantisches Sehnsuchtsgefühl, variierend verschriftlicht von Enid Blyton wie von Edgar Allan Poe. Bis heute dienen Arbeitswohnungen von Künstlern à la Franz von Stuck ihrer faszinierenden Besichtigung. Und Ernst Jünger notierte im April 1943 nach einer Visite im Pariser Großbürgertum: „Diese alten und mit ererbten Dingen gefüllten Wohnungen haben sich im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte dem Menschen und seinem Wesen angepasst wie Gewänder, die sich nach langem Tragen dem Körper in jeder Falte anschmiegen. Es sind Gehäuse im Sinne höherer Zoologie.“

Und heute? „Bring deine Produkte zurück in den Kreislauf“, so lautet ein Slogan des Gebrauchtwarenportals Rebuy. Was aber, wenn der Kreislauf sie gar nicht haben will, die guten Dinge? Wer selbst in Zeiten hoher Flüchtlingszahlen und Inflation in Sozialkaufhäusern abblitzt, weil das Sortiment seiner untadeligen Spende bereits dutzendfach im Laden steht, ist nicht allein.

So viele Bücher bleiben einem 60-Jährigen

Dass die öffentlichen Bücherschränke ebenso überquellen, lenkt den Blick auf ein kaum leichter zu bewältigendes Problem. Wer etwa als 60-Jähriger wöchentlich zur konzentrierten Lektüre eines Buches kommt, dem bleiben nach durchschnittlicher Lebenserwartung noch 962 Bücher – wenn die Sehkraft mithält, er kein Werk zweimal liest und die Zeit nicht mit anderen Dingen vertut. Hoch erscheint die Zahl, wenn man noch kein Buch besitzt. Oder man sich die Bücher als Stapel vorstellt, den man selbst zum Wertstoffhof tragen muss, weil die Müllabfuhr mancherorts neuerdings keine Papierbündel neben den blauen (oder grünen) Tonnen mehr mitnimmt. Deutlich kleiner wirkt sie schon, müsste man eine Auswahl treffen.

Natürlich wäre es ungerecht, der verrinnenden Sanduhr die Schuld an übermäßigem Konsum zu geben. „Von dem Geld, das wir nicht haben, kaufen wir Dinge, die wir nicht brauchen, um Leuten zu imponieren, die wir nicht mögen“, brachte vor gut 20 Jahren im Film „Fight Club“ die kompromisslose Hauptfigur Tyler Durden die Kritik an der Überflussgesellschaft auf den Punkt.

Kann deutsche Kriegsgeneration nichts wegwerfen?

In Deutschland stand lange die Kriegsgeneration unter dem Generalverdacht, nichts wegwerfen zu können und blindlings Vorräte zu horten. Dass der Opa auf Spaziergängen gefundene Schrauben oder Nägel aufhob, um sie zu Hause zur Weiterverwendung in die dafür vorgesehene Blechdose zu stecken, war in den 70er-Jahren nichts Besonderes.

Doch weder Not noch die Erfahrung von Flucht oder sozialistischer Mangelwirtschaft fluteten in der Bundesrepublik die Häuser der Nachgeborenen mit den Sachen, die ihre älter werdenden Eigentümer nun ähnlich trotzig verteidigen wie der Nachwuchs das unaufgeräumte Kinderzimmer. Dabei schmückten die frugalistische Lebensweise eines Paul Gauguin in Polynesien, die von Schriftstellern wie Hesse oder Fermor idealisierte Abgeschiedenheit der Klosterzelle oder Henry David Thoreaus puritanische Waldhütte jahrelang die raumhohen Bücherregale des Bildungsbürgertums und verdeckten dabei doch sorgfältig den Gedanken, dass die materielle Sorglosigkeit in Frieden, bei ständigem Wirtschaftswachstum und mit günstiger Energie womöglich nur ein endliches Kapitel sein könnte.

Nun wird es enger für das Übergepäck in den eigenen vier Wänden. Mit bezahlbarem Wohnraum schrumpfen die Stauräume. Sei es aus Überzeugung oder notgedrungen: Menschen weichen in Minimalismus aus – und im Tiny House dürfte der 30-bändige Brockhaus von Tante Gerti unweigerlich zu Konflikten führen, trotz Ledereinband und Goldschnitt.

Neue Begriffe „Degrowth“ und „Downsizing“

„Degrowth“ und „Downsizing“ lauten Begriffe, die neuerdings besonders auf Versammlungen der Grünen in Mode sind. Menschen, so die Erwartung, sollten sich mit weniger begnügen. Weniger Fleisch, weniger Auto, weniger Geld, weniger Wohnraum. Schon steht der Vorwurf gen Babyboomer-Generation im Raum, sie „verbrauche“ pro Kopf zu viel (oftmals ersparten und endlich abbezahlten) Wohnraum. Für viele Junge wird in der zunehmend mobilen Arbeitswelt jeder Ballast schlichtweg hinderlich.

Zugleich wächst die Sensibilität für Produktionsbedingungen und ökologische Auswirkungen der globalen Industrie und damit die Nachfrage nach regionalen oder Secondhand-Produkten – wobei einstmals populäre Qualitätsware wie das unzerstörbare Schreibtisch-Unikat vom Schreiner des Vertrauens oder maßgefertigte Schuhe zu kaum bezahlbaren Exoten geworden sind. Gerade Jüngere verändern das Verhältnis zu Dingen und Besitz. Möbel und Elektrogeräte gibt es zur Miete. Carsharing, Cloud und Netflix repräsentieren das unbehaust Vorübergehende – Negativerscheinungen der Leih- und Wegwerfgesellschaft wie den oft verantwortungslosen Umgang mit E-Rollern oder den raschen Kauf beim Möbeldiscounter nicht völlig zu vergessen.

Hilfe und vielleicht auch etwas Trost nahen aus jenem Land, das uns schon Pippi Langstrumpf, ABBA und Köttbullar bescherte: Unter dem Begriff „Döstädning“ (Todesputz) folgen die Schweden dem Trend, letztmalig die Entrümpelungskisten zu packen, bevor es andere für sie tun müssen. Und angeblich hören dort die erwachsenen Kinder von ihren Eltern vermehrt die Frage: Willst du das wirklich behalten?

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