Geschichte Die kleine Waldmaus und der Winterschlaf

Langsam erobert der Winter den Wald und die Tiere ziehen sich in ihre Nester und Höhlen zurück. Doch schlafen alle Tiere?

Zwei Nächte und einen Tag hatte es geschneit. Es war der erste Schnee in diesem Jahr. Plötzlich war er da gewesen. Keines der Waldtiere hatte damit gerechnet, war die Zeit zuvor fein warm und freundlich und gar nicht winterkalt gewesen. Nun aber hatte der Schnee auch die Kälte mitgebracht. Die trat so mächtig ihre Herrschaft an, dass man urplötzlich den Atem als kleine Dampfwölkchen in der Winterluft sehen konnte. Höchste Zeit für die Waldtiere, sich in ihren geschützten und warmen Schlafhöhlen auszuruhen.

„Bestimmt schläft der ganze Wald nun, so kalt ist es“, sagte die kleine Waldmaus, als sie noch einmal einen kurzen Blick ins Freie wagte. Sie zitterte aber so sehr vor diesem fremden Winter, dass sie schnell wieder zurück in den Mausebau flitzte.

„Jetzt ist bestimmt dort draußen nun nichts mehr los“, murmelte sie und fühlte sich fast ein bisschen zufrieden dabei. „Ich versäume also nichts und kann ruhig schlafen.“

Das war gut so. Die kleine Waldmaus war nämlich eine neugierige kleine Maus. Nichts, was im Wald vor sich ging, sollte ihr entgehen. Alles wollte sie sehen und hören und riechen und kennenlernen. Sich zum Winterschlaf niederzulegen und ruhig zu bleiben, das konnte sie sich gar nicht vorstellen. Die Waldtiere hatten davon gesprochen, aber ehrlich: Viele Monate lang im Mausebau liegen und schlafen? Nein, nicht einmal daran denken mochte die kleine Waldmaus. Wie langweilig würde das sein! Und fest hatte sie ihre Mausepfötchen gedrückt, dass es auch in der Winterzeit im Wald warm sein würde.

„Wir alle müssen einmal schlafen“, hatte Opa Maus getröstet. „Du wirst sehen, der Schlaf wird dir gut tun. Du wirst Kräfte sammeln für die Zeit danach. Im Frühling nämlich beginnt der Ernst des Lebens und es wird wenig Zeit zum Ruhen bleiben.“

Ernst des Lebens? Das klang ernst. Und wenn Opa Maus es sagte, musste es auch stimmen.

Auch wenn sich die kleine Waldmaus wenig unter dem „Ernst des Lebens“ vorstellen konnte, hatte sie sich nun in ihrem Nest aus trockenen Gräsern, Ästchen und wärmenden Kiefernnadeln zu einem Schläfchen zusammengerollt.

‚Nur kurz werde ich schlafen‘, nahm sie sich vor. ‚Denn eigentlich bin ich gar nicht müde. Und vielleicht zieht die eisig kalte Kälte schnell weiter.‘ So dachte die kleine Maus und schlief ein.

Sie schlief viele Wochen und ihr Schlaf war so tief, dass sie nicht hörte, wie der Frost die Äste der Bäume knacken ließ und wie Berge von Schnee, die die Winterstürme von den Zweigen der Tannen und Kiefern wehten, auf die Mausehöhle polterten.

Das Bellen der hungrigen Rehe und Füchse und das Krächzen der Raben hörte sie ebenso wenig wie die Stimmen der Menschen, die mit Skiern und Schlitten nun viel Spaß im Wald hatten. Nichts davon hörte die kleine Waldmaus und das war gut so. Sonst hätte sie die Neugierde doch noch dazu getrieben, den Schneewinterwald kennen lernen zu wollen, und ganz bestimmt hätte sie sich dann zwischen hohen Schneehügeln verirrt.

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