Geschichte Als die Leute über die Angst nachdachten

Die meisten Menschen fürchten sich vor etwas, doch wollen es nicht zugeben. Aber das ändert sich, als die Feen sich einmischen.

„Die meisten Menschen haben Angst“, sagte eine Mutter eines Tages zu ihrem Kind, das sich vor den größeren Jungs fürchtete. „Sie tun nur so stark, weil sie ihre Angst niemandem zeigen wollen.“

„Sie haben Angst vor mir?“, fragte das Kind ungläubig. Die Mutter lächelte. „Vielleicht. Jeder Mensch hat andere Ängste. Nur zeigen will sie keiner und das ist schade.“ Das Kind dachte nach. „Stimmt“, sagte es. „Ich wünsche mir, dass man die Angst der Leute sehen kann.“ Die Mutter nickte. „Ein kluger Wunsch“, sagte sie. „Nur, erfüllbar ist er nicht.“

Nicht erfüllbar? Die Wunschfee war anderer Meinung. Sie sprach mit ihren Feenfreundinnen, die für die Gefühle der Menschen verantwortlich waren, und gemeinsam schmiedeten sie einen Plan.

In dieser Nacht träumten all die Menschen, die Angst hatten oder die sich gerade vor irgendeiner Sache besonders fürchteten, den Traum vom rosafarbenen Fleck der Angst. Jeder, der Angst hatte, würde ihn im Gesicht tragen. Und als sie am Morgen erwachten, schmückte ein runder, rosafarbener Fleck ihr Kinn. Es war der Fleck der Angst.

Was für ein Schreck! Die Menschen rubbelten und wischten und drückten an ihrem Kinn, doch der Fleck ließ sich nicht ausradieren. Auch Cremes und Pickelstifte halfen nicht. Nach wenigen Minuten leuchtete der dumme Fleck, der hier gar nichts zu suchen hatte, in ihren Gesichtern wieder auf. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als den Fleck mit zum Kindergarten, zur Schule, zur Arbeit, zum Einkaufen und überall dorthin mitzunehmen, wo sie an diesem Tag zu tun hatten. Manche Leute hatten ein Heftpflaster über den Fleck geklebt, aber das nutzte wenig, wusste doch jeder, was sich darunter verbarg.

Es waren viele Menschen, die plötzlich einen Kinnfleck trugen. Und klar, viele Leute machten sich über die Flecken lustig. Es waren diejenigen, die sagten, sie hätten keine Angst.

Das wiederum missfiel der Wunschfee und sie besprach sich wieder mit ihren Kolleginnen. Und am nächsten Morgen erwachten viele Menschen mit einem roten Fleck mitten auf der Nasenspitze. Das waren all die Leute, die anderen Angst einjagten. Ganz viele von ihnen trugen so nun zwei Flecke im Gesicht, einen rosafarbenen am Kinn und einen roten auf der Nase. Das bedeutete, dass sie Angst hatten und Angst bereiteten.

Witzig sahen sie aus, die Menschen in jenem Tagen. Und manche waren auch ganz schön wütend. Auf die Flecke und überhaupt. Andere begannen nachzudenken und sie beschlossen, ihr Leben zu ändern, um anderen weniger Angst zu bereiten.

Eine gute Idee. Die Flecke dieser Menschen verblassten von Tag zu Tag mehr. Und wie durch ein Wunder verringerte sich damit auch die Zahl der rosafarbenen Flecke in anderen Menschengesichtern. Klar, je weniger man sich gegenseitig Angst zufügte, desto kleiner wurden die Ängste. Es dauerte aber noch eine ganze Weile, bis alle Flecke wieder verschwunden waren.

Übrigens: Es soll auch Menschen gegeben haben, die nie einen Fleck im Gesicht hatten. Es waren all die, die aus ihrer Angst nie einen Hehl gemacht hatten und die früher immer als Angsthasen verspottet wurden.

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