Wenn die Abwehr Amok läuft

Saarbrücken · Zwölf Millionen Menschen in Deutschland leiden an Heuschnupfen. Darunter sind immer mehr Patienten im fortgeschrittenen Alter.

 Diese gezackten Objekte sind Blütenpollen der Kamille bei rund 2600-facher Vergrößerung. Foto: np

Diese gezackten Objekte sind Blütenpollen der Kamille bei rund 2600-facher Vergrößerung. Foto: np

Foto: np

Als Jugendliche bemerkte Bianca Schweizer (der Name ist geändert) erstmals, dass sie im Frühjahr ständig Erkältungssymptome hatte. Ein Test ergab: Birkenpollen waren schuld. "Es wurde immer schlimmer, am Ende hatte ich sogar Asthmaanfälle", erinnert sich die heute 55-Jährige. Aber über Immuntherapien oder sogenannte Hyposensibilisierungen, die die Reaktionen des Immunsystems auf Allergene herunterregulieren sollen, hörte sie wenig Gutes. Alle paar Tage, später alle paar Wochen eine Spritze in der Arztpraxis zu bekommen, über Jahre hinweg - der Aufwand erschien ihr unverhältnismäßig.

"Dann aber hörte ich von den neuen Tropfen, die man jeden Morgen auf nüchternen Magen nehmen kann und die in Studien gut abgeschnitten hatten", berichtet Schweizer. "Da habe ich mich doch für die Hyposensibilisierung entschieden. Ich war fast vom ersten Tag an völlig beschwerdefrei." Bis heute, drei Jahre nach der letzten Einnahme, sind die Beschwerden nicht zurückgekommen. Tropfen oder Tabletten zur Hyposensibilisierung gibt es noch nicht gegen alle Pollen, die Heuschnupfen auslösen. Auch brauchen die Patienten Durchhaltevermögen für drei Jahre Therapie. Eine belgische Studie zeigte gerade, dass die nur zweijährige Tablettentherapie gegen Gräserallergie allein meist nicht ausreicht.

Ein Trost für alle, für die nur Spritzen infrage kommen: Diese Art der Immuntherapie ist anwenderfreundlicher und effektiver als früher. Dr. Adam Chaker, Allergologe und HNO-Arzt der TU München, betont: "Es gibt bei einer richtig durchgeführten und zielgenau angepassten Immuntherapie kaum echte Therapieversager." In der ersten, der Steigerungsphase müsse der Patient zwar nach wie vor einmal pro Woche eine Spritze erhalten, damit sich sein Immunsystem langsam an die Allergene gewöhnt. Danach stehe nur einmal monatlich eine Erhaltungsspritze mit der maximalen Dosis des Allergens an.

Manche Therapien erlaubten sogar eine Anwendungs-Pause außerhalb der Saison. "Wichtig ist, dass jeder mit einer adäquat dosierten Therapie behandelt wird", erklärt Chaker. Er weist darauf hin, dass aber auch diese meist nicht alle Beschwerden wegzuzaubern vermag. "Wir erreichen ,nur' eine Verbesserung der Beschwerden im Alltag von 50 bis 70 Prozent. Dafür vermeiden wir häufig den Etagenwechsel zum Asthma." Was viele Heuschnupfenpatienten gern verdrängen: Vier von zehn, die sich gar nicht behandeln lassen, entwickeln irgendwann allergisches Asthma.

Was aber tun, wenn trotz Immuntherapie der Heuschnupfen weiterhin sehr belastet? Sogenannte Antihistaminika helfen vielen Menschen, ebenso Kortison-Nasensprays, -Spritzen oder -Tabletten. Aus Angst vor Nebenwirkungen weichen aber viele auf die Homöopathie aus, etwa auf Globuli aus dem Kleinen Goldregen. Auch Kapseln mit dem Extrakt der mongolischen Tragantwurzel erfreuen sich steigender Beliebtheit. Doch Studien zur Wirkung beider sind allerdings oberflächlich und klein. Chaker geht davon aus, dass größere und sogenannte Doppelblind-Studien notwendig seien, um auszuschließen, dass es sich bei der Wirkung um mehr als nur den Placebo-Effekt handelt.

Ein paar vielversprechende Studien, die für eine komplementärmedizinische Therapie sprechen, gibt es allerdings zur Akupunktur. Durch Zufall stieß Hanne Weigand (der Name ist geändert) auf diesen Behandlungsansatz. Sie war Mitte 40, seit über 30 Jahren Heuschnupfenpatientin und nach Meinung verschiedener Ärzte austherapiert.

Zur Akupunktur kam sie eigentlich ihrer Kniebeschwerden wegen. "Ach, Sie haben Heuschnupfen? Da kann ich ja gleich ein paar Nadeln mehr setzen", schlug ihre Hausärztin vor. "Nach sechs, sieben Anwendungen war ich beschwerdefrei und bin es bis heute, sieben Jahre später, geblieben", freut sich Weigand. Dass Akupunktur schnell wirken kann, bestätigt die Ärztin und Akupunktur-Expertin Gabriela Huemer aus dem bayerischen Nußdorf am Inn. Dass jemand nach nur einer Saison Akupunktur dauerhaft beschwerdefrei bleibt, sei hingegen selten. "Wir gehen davon aus, dass die Wirkung langfristig ist, wenn die Patienten drei Jahre hintereinander kommen." Wichtig sei, dass der Akupunkteur qualifiziert sei, etwa zusätzlich zum Medizinstudium ein Studium in Alternativmedizin absolviert hat.

Huemer empfiehlt, ansonsten zu fragen, ob der infrage kommende Arzt einen Meister der Akupunktur, die umfassendste Ausbildung in diesem Feld, hat und außerdem Expertise in puncto Allergien. Der ideale Zeitpunkt, mit der Heuschnupfentherapie zu beginnen, liege wenige Wochen bis Monate vor dem Zeitpunkt, zu dem sonst die Symptome beginnen.

Huemer behandelt zwar auch Patienten, die gerade Beschwerden haben - "da müssen wir aber zweimal pro Woche statt einmal einsteigen und mehr Nadeln setzen." Zur Akupunktur kommen sowohl Menschen nach einer Hyposensibilisierung, die ihnen nicht genug half, als auch Patienten, die Antihistaminika und Cortison ablehnen. Eine dritte Gruppe sind jene, bei denen Medikamente allein zu wenig Erleichterung schafften. "Wer trotz Medikation sehr starke Symptome hat, bei dem geht es auch in der Akupunktur zunächst vor allem darum, den Medikamentenbedarf zu senken", sagt Huemer. Die Nadeln sollen das Immunsystem so beeinflussen, dass es auf Allergene weniger heftig reagiert.

Viele von ihren Patienten benötigten nach einiger Zeit der Akupunktur ergänzt um Lebensstilveränderungen weder Tropfen noch Tabletten, erklärt die Ärztin. Warum aber entwickeln immer mehr Menschen Heuschnupfen? "Wir wissen es nicht", erklärt Adam Chaker. "Es gibt verschiedene Hypothesen, aber am ehesten scheint ein westlicher Lebensstil zu häufigeren Allergien zu führen. Allerdings verzeichnen wir seit circa zehn Jahren auch einen Anstieg der Allergien in Entwicklungsländern, vor allem in Asien und Afrika." Und Huemer ergänzt: "Dazu kommen Umwelteinflüsse. Neue Studien legen nahe, dass ein extremes Klima, Witterungsschwankungen und Feinstaubbelastung die Pollen verändern." Um ihren Zweck zu erfüllen, Pflanzen zu bestäuben, müssen sie sich diesen Umweltbedingungen anpassen. Möglichweise stufe das Immunsystem einer zunehmenden Zahl von Menschen diese veränderten Pollen leichter als Krankheitserreger ein, vermuten die Mediziner.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort