Gaffen ist auch virtuell möglich Tote bringen immer Quote

Berlin · Zahlreiche Hobby-Filmer drehen Videos von Unfällen und Tatorten und stellen diese in die sozialen Medien.

 Bei immer mehr Unfällen zücken Umstehende ihr Handy, um die Situation zu filmen und im Internet zu veröffentlichen. Die Filmer nehmen keine Rücksicht auf Opfer oder Hinterbliebene. Manche leben sogar von diesen erschreckenden Bildern und der Sensationsgier der Gesellschaft.

Bei immer mehr Unfällen zücken Umstehende ihr Handy, um die Situation zu filmen und im Internet zu veröffentlichen. Die Filmer nehmen keine Rücksicht auf Opfer oder Hinterbliebene. Manche leben sogar von diesen erschreckenden Bildern und der Sensationsgier der Gesellschaft.

Foto: dpa/Klaus-Dietmar Gabbert

Auf der Videoplattform Youtube läuft ein Kurzfilm mit dem Namen „PKW gegen Baum – 22-jähriger Fahrer verstorben in Königswinter-Willmeroth am 29.04.19“. Zu sehen sind zuerst Einsatzfahrzeuge von Polizei, Feuerwehr und Notarzt. Kaum erkennbar liegt eine blaue Plane vor einem Feuerwehrauto. Dann wechselt die Kameraeinstellung. Am linken Bildrand steht der Unfallwagen oder was davon übrig ist. In der Straßenmitte unter der verpixelten blauen Plane liegt der 22-jährige Fahrer, er ist tot.

Das Video stammt von dem Youtube-Kanal „Einsatzfahrten und so“. Autor ist Thomas Kraus aus Bonn. Er selbst bezeichnet sich als Einsatzfilmer und dreht Videos von Feuerwehr- und Polizeieinsätzen oder Unfällen, um sie ins Netz zu stellen. Täglich lädt Kraus Filme hoch, insgesamt sind es bisher über 6000. Dabei ist er nur einer von vielen auf der Videoplattform. Binnen Sekunden lassen sich über 30 Kanäle aus verschiedenen Ländern finden, über 20 000 Filme insgesamt. Wird ein Video abgespielt, schlägt die Plattform weitere Unfallfilme am Seitenrand vor – der Algorithmus von Youtube macht es möglich.

Viele der Unfallvideos dauern kaum länger als eine Minute. Das reicht oft schon aus, um hunderte bis mehrere tausend Zuschauer zu erreichen. Kommentare von empörten Plattform-Nutzern, wie „Respektlos“ oder „herzlos und absolut unmenschlich“ häufen sich unter diesen Beiträgen. Aber auch Angehörige der Opfer finden sich in der Kommentarspalte unter den Youtube-Videos: „Ich vermisse dich“ oder „ich finde es absolut unfassbar, das hier zu sehen. Schämen Sie sich!“

Nina Wahn ist Verkehrspsychologin des Allgemeinen Deutschen Automobil-Clubs (ADAC) und kennt das Phänomen der Gaffer: „Viele Schaulustige greifen zum Smartphone, um den Unfall zu filmen. Das Handy gibt ihnen das Gefühl, sich hinter einem Filter verstecken zu können und entfernt sie emotional von der Situation. Hohe Klickzahlen und Gefällt-mir-Angaben bestätigen sie später auch noch in ihrem Verhalten.“ Meist fehle es den Einsatzfilmern an Empathie für die Betroffenen. Angehörige der Verunglückten werden durch die Aufnahmen stetig an den tragischen Unfall von Verwandten und Freunden erinnert, warnt die Verkehrspsychologin. Nach einem tödlichen Unfall trauern laut Bundesverkehrsministerium und Deutschem Verkehrssicherheitsrat (DVR) durchschnittlich 71 Personen: Elf Angehörige, vier enge Freunde und 56 Bekannte. Dazu kommen 42 Einsatzkräfte, die ebenfalls von dem Unfall betroffen sind. Aufgrund der Einsatzfilmer dürfte sich diese aber Anzahl stetig erhöhen. „Die Gaffer können das Ausmaß der Situation und die Auswirkungen ihrer Handlungen nicht ermessen und stellen ihre eigenen Motive der Sensationsbefriedigung über die Bedürfnisse anderer“, sagt Wahn.

Dabei gilt Gaffen laut Strafgesetzbuch (StGB) als eine Ordnungswidrigkeit und kann laut Bußgeldkatalog mit einer Geldstrafe von 20 bis zu 1000 Euro bestraft werden. Das bloße Fotografieren oder Filmen eines Verletzten kann sogar mit einer Geld- oder Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren belangt werden. Personen, die diesen Inhalt auf sozialen Netzwerken veröffentlichen, können sich ebenfalls strafbar machen, erläutert Wahn. Auch hier droht nach StGB eine Geld- oder Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren. Die Polizei sei zudem berechtigt, die Smartphones der Gaffer einzuziehen.

Auch auf der Fotoplattform Instagram gibt es Benutzerkonten, die mit dem Unglück Anderer um Aufmerksamkeit buhlen. Unter dem Namen Crimescenecleaning findet sich die Seite des US-amerikanischen Tatortreinigungs-Unternehmens Spaulding Decon aus Kalifornien. Täglich laden deren Mitarbeiter auf dem Profil Fotos oder Videos neuer Tatorte hoch und beschreiben in zwei bis drei Sätzen was dort vorgefallen ist. Mit der Smartphone-Kamera dokumentieren die Tatortreiniger ihre Arbeit und führen den Zuschauer ähnlich wie bei einer Sightseeing-Tour durch verwahrloste Zimmer und stellen dabei Blutlachen, Müll oder Leichenteile zur Schau.

Derzeit folgen 124 000 Menschen der Tatortreiniger-Seite und manche Fotos haben an die 8000 Gefällt-mir-Angaben. Die Filme erreichen durchschnittlich rund 30 000 Zuschauer. Unter dem teils abscheulichen Inhalt finden sich zwischen 30 bis 300 Kommentare von anderen Nutzern, die ihre Empörung über die Menschheit oder ihren Ekel äußern – was sie aber nicht davon abhält, bei weiteren Bilder per Klick ihr Gefallen zu bekunden.

Eine Tatortreinigerin von Spaulding Decon rechtfertigt die teils ekelerregenden Bilder so, dass sie an die Menschen appellieren will, aufmerksamer zu sein, wenn zum Beispiel tagelang in der Nachbarwohnung nichts zu hören ist.

Warum erfreuen sich solche Bilder und Videos so großer Beliebtheit? Das liege an der Neugier der Menschen, antwortet Nina Wahn. Auch, wenn der Titel des Videos oder der Bilder verstörend seien, sehe sich ein Großteil der Menschen den Inhalt an. Die Klick-Zahlen der Youtube-Videos sprechen für sich: die beliebtesten Videos erreichen mehrere Millionen Zuschauer.

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