Pharmazeuten lernen von Insekten

Gießen · Insekten sind die heimlichen Herrscher der Erde. Ein Team der Universität Gießen will nun herausfinden, wie sich diese Tiere zum Beispiel Bakterien vom Leib halten. Ein Ziel der Wissenschaftler ist dabei die Entwicklung neuer Antibiotika.

 Ameisen gehören zu den erfolgreichsten Insekten. Einige Arten bilden komplizierte Lebensgemeinschaften mit Pilzen und Bakterien. Nach einer Schätzung entspricht die Biomasse aller Ameisenarten zusammengenommen in etwa jener aller Menschen. Foto: Knaden/MPG

Ameisen gehören zu den erfolgreichsten Insekten. Einige Arten bilden komplizierte Lebensgemeinschaften mit Pilzen und Bakterien. Nach einer Schätzung entspricht die Biomasse aller Ameisenarten zusammengenommen in etwa jener aller Menschen. Foto: Knaden/MPG

Foto: Knaden/MPG

"Von Insekten lernen heißt siegen lernen." So lautet der Lieblingsspruch des Insektenkundlers Andreas Vilcinskas. Er wirbt für das große Potenzial der Insekten-Biotechnologie. "Mehr als jede zweite Art da draußen in der Natur ist ein Insekt", schwärmt der Zoologie-Professor der Universität Gießen . Mit rund 1,2 Millionen beschriebenen Arten zählen die sechsbeinigen Tierchen zu den erfolgreichsten Organismen überhaupt, "wenn wir Erfolg mit einer möglichst breiten Biodiversität definieren", sagt der Forscher.

Das sollte sich auch in der Vielfalt der von diesen Tieren produzierten biochemischen Substanzen zeigen. Sie sind allesamt auch für den Menschen potenziell interessante pharmazeutische Wirkstoffe, ist sich der 51-Jährige sicher. Sein 80-köpfiges Team am Zentrum für Biotechnologie und Bioressourcen in Gießen will mit Kooperationspartnern aus der Industrie diesen Schatz heben. Die Anwendungsmöglichkeiten der Wirkstoffe reichten von neuen Antibiotika , schmerzstillenden Substanzen, tumorunterdrückenden und antiinfektiven Mitteln bis hin zu Insektiziden.

Eigentlich genügt Andreas Vilcinskas ein Spaziergang durch Wald und Flur, um auf neue Ideen zu kommen. Welche Insekten findet man in Jauche, wie überleben sie dort? Dann ist da der Totengräberkäfer. Diese wenige Zentimeter großen Insekten können verendete Tiere kilometerweit riechen. Sie vergraben das Aas als Futterreserve und Brutstätte für den Nachwuchs. Dazu überziehen die Käfer ihre Beute mit Speichel, damit sie später besser zu verdauen ist. "Das wäre in etwa, als würde ich jemanden anspucken. Und der löst sich auf", sagt Vilcinskas. Das hört sich unappetitlich an, ist aber der Gang der Dinge in der Natur.

Mit dem kompletten Arsenal der modernen Labortechnik fahndet das Team um den Entomologen (Insektenforscher) nach Substanzen, die Insekten das Leben und das Überleben sichern. Die Forscher suchen Eiweiße und die entsprechenden Gene, die etwa bestimmten Marienkäfern Abwehrkräfte gegen Krankheitserreger verleihen. Das könnte künftig zu neuen Medikamenten führen.

Doch Insekten geben auch Anlass zur Sorge: "Sie sind nicht nur die größten Nahrungskonkurrenten des Menschen, sie übertragen auch viele Krankheiten", sagt Vilcinskas. Bei der Verbreitung der Erreger der Pest, der Malaria und des Zika-Virus sind Insekten beteiligt. Das genaue Verständnis vom Lebenszyklus dieser Tiere soll nun zu neuen Abwehrstrategien führen. Und Vilcinskas setzt noch einen drauf: "Wenn ich mir die Nachrichten anhöre, weiß ich als Wissenschaftler, was auf uns zukommt: Es wird wärmer, und mit dem Klimawandel dringen auch andere Arten zu uns vor." Darunter sind auch viele Insekten . In der Entwicklung von nachhaltigen und umweltschonenden biotechnologischen Methoden für die Schädlingsbekämpfung sieht der Wissenschaftler deshalb eine weitere wichtige Aufgabe.

Ist ein Wirkstoff einmal isoliert, sei es ein Insektizid oder ein Medikament, dann stehen die Experten der Insekten-Biotechnologie vor ihrer Hauptaufgabe, diese Moleküle auch zu produzieren. Eine Standardprozedur ist es, die Gene für den Wirkstoff dem Insektenerbgut zu entnehmen und in Bakterienkulturen einzupflanzen. Mit der Kultivierung der Bakterien in sogenannten Fermentern versuchen die Biotechnologen, diese Wirkstoffe zu produzieren.

Das funktioniert allerdings nicht immer. Die Forscher entwickeln deshalb Kultivierungsmethoden auf der Grundlage von Insektenzellen. Der Zoologieprofessor Vilcinskas hat dafür den Begriff "gelbe Biotechnologie" geprägt - als Ergänzung zur roten in der Medizin, zur grünen in der Landwirtschaft, zur weißen in der Industrie und zur blauen aus dem Meer. Die Farbcodierung leitet sich vom farblos-gelblichen "Blut" der Insekten ab.

Das Konzept der gelben Biotechnologie ist für Vilcinskas, seine Kooperationspartner und Förderer so vielversprechend, dass Universität und Fraunhofer-Gesellschaft jetzt ein eigenständiges Fraunhofer-Institut für Bioressourcen aufbauen. Spatenstich für das 30 Millionen Euro teure Gebäude soll in diesem Sommer sein. In das neue Fraunhofer-Institut bringt auch der Kooperationspartner Sanofi Deutschland seine Naturstoffsammlung ein. Sie umfasst rund 130 000 tiefgefrorene Proben etwa an Bakterien- und Pilzarten. Entwicklungsziele sind beispielsweise Reserve-Antibiotika für den Fall, dass etablierte Mittel nicht mehr greifen, oder Nischen-Antibiotika für spezielle Erkrankungen. Auch Antibiotika , die ausschließlich für die Tiermedizin bestimmt sind, könnte sich Vilcinskas vorstellen. Die Gefahr, dass Antibiotika für den Menschen durch den Einsatz in der Tierzucht an Wirkung verlieren, wäre damit gebannt.

Auch wenn Vilcinskas noch dicke Bretter bohren muss, um vielen Menschen das Unbehagen vor Insekten zu nehmen, unter seinen Kollegen aus der Forschung muss er dagegen niemanden mehr überzeugen. Deutschland galt im 20. Jahrhundert einmal als die Apotheke der Welt, so der Wissenschaftler. Vielleicht kommen im 21. Jahrhundert viele der neuen Wirkstoffkandidaten der Pharmazie wieder von hier.

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