Oft genügen auch Geduld und Gips

Seit einem Jahr läuft in deutschen, österreichischen und Schweizer Kliniken eine Studie zum Armbruch. Sie geht der Frage nach, ob eine Fraktur bei Kinden immer operiert werden muss. Chirurgen und Eltern der kleinen Patienten berichten.

Mannheim . Klettern, hangeln, toben auf dem Spielplatz - für den kleinen Franz (6) war das ein Spaß. Bis zu jenem 25. April. Da verlor der Junge plötzlich den Halt und fiel einsfünfzig in die Tiefe: Rettungswagen, Fahrt in das 30 Kilometer entfernte Universitätsklinikum Mannheim . Die Diagnose lautet dort "Distale Metaphysäre Radius- und Ulnafraktur". Anna Quaschning, die Mutter von Franz, übersetzt das Medizinerlatein in einem Satz: "Elle und Speiche waren durch."

"Bei Kindern sind das die häufigsten Knochenbrüche überhaupt", erklärt Professor Lucas M. Wessel, Direktor der Kinderchirurgischen Klinik der Universitätsmedizin Mannheim . Fast jede dritte Fraktur bei Kindern betrifft laut Wessel den unteren Teil der Elle, der Speiche oder gleich beider Knochen - Laien nennen das gern zusammenfassend Handgelenksbruch.

Abwarten oder operieren?

Das Besondere bei den jungen Patienten : Auch wenn an ihrem Arm ein Knick zu sehen ist, muss oft nicht operiert werden. Bei Kindern im Alter unter zwölf Jahren sei eine Spontankorrektur von Fehlstellungen unter bestimmten Umständen möglich, wenn die gebrochenen Knochen noch Kontakt haben, erklärt Wessel. Er berichtet von Patienten , die erst Wochen nach ihrem Unfall in seine Praxis kommen. Dort sehen Ärzte dann, dass der Knochen gebrochen war und krumm wieder zusammengewachsen ist. Beträgt die Abknickung weniger als 30 Grad, gilt laut Wessel zumeist: "Ein Jahr später ist von der Fehlstellung nichts mehr zu sehen."

Abwarten oder operieren? Das ist eine Frage des Alters, des Bruches - und der Erfahrung der Mediziner. Die Arme einzugipsen und die Frakturen zu beobachten, sei früher der Standard gewesen, merkt Wessel an, der seit drei Jahrzehnten in der Chirurgie tätig ist. "Erst vor etwas über 20 Jahren fing man an, diese Frakturen immer öfter zu operieren", berichtet er. Inzwischen seien solche Operationen für die Patienten weniger belastend und sehr sicher geworden. Das bewährte, konservative Therapiekonzept geriet darüber an vielen Krankenhäusern ins Hintertreffen. Bei Wessel nicht. Um zu belegen, dass die konservative Therapie nicht unterlegen ist, startete er eine große Studie, für die vor einem Jahr der Startschuss fiel und die voraussichtlich noch drei Jahre lang läuft. Gut 30 Kliniken in Deutschland, Österreich und der Schweiz sind beteiligt, 742 Kinder sollen mitmachen.

Franz, dessen Elle und Speiche nach dem Sturz um 18 Grad abgeknickt waren, wurde einer der ersten Teilnehmer. Seine Mutter erinnert sich: "Uns wurde erklärt, dass einige Teilnehmer operiert werden, andere nicht. Wir sind nicht gegen Operationen, aber wenn man es auch ohne beheben kann…" Das Los entschied: Franz wurde konservativ behandelt.

Rund drei Monate später, in den Sommerferien, landete Deniz (9) im selben Klinikum. Der Junge war vom Hochbett gefallen und brach sich bei diesem Sturz den linken Unterarm. Auch Deniz' Eltern stimmten zu, ihren Sohn an dieser Studie teilnehmen zu lassen. Er landete dabei in der Gruppe jener Teilnehmer, die operiert werden. Dabei wird unter Narkose der Bruch reponiert, wie der Mediziner sagt, das bedeutet: Die Knochenenden kommen wieder in ihre ursprüngliche Stellung. Danach führt der Chirurg über kleine Schnitte feine Metallstifte, sogenannte Kirschner-Drähte, ein und fixiert alles.

Die Kirschner-Drähte sorgen für eine gewisse Stabilität, doch ohne einen Gips geht es auch in diesem Fall nicht. Deniz' Mutter Ramona Cicek berichtet: "Es war Deniz' erste Operation, und ich war am Anfang schon am Überlegen, ob das die richtige Entscheidung ist. Später hörte ich allerdings von Leuten, deren Brüche nicht operiert worden waren und deren Arme schief geblieben waren."

Altersgrenze elf Jahre

Auf die Risiken beider Verfahren weist Professor Peter P. Schmittenbecher hin, Direktor der Kinderchirurgischen Klinik Karlsruhe und künftig in der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie Leiter der Sektion Kindertraumatologie. Bleibt ein Unterarm schief, war das Wachstum des Patienten möglicherweise schon zu Ende. An der Studie nehmen aus diesem Grund nur Kinder bis zum Alter von elf Jahren teil.

Zudem gilt laut Schmittenbecher: "Brüche , die vollständig disloziert sind, wo also die Bruchstücke nebeneinander oder hintereinander stehen und die Bruchflächen keinen Kontakt mehr haben, sind absolut operationsbedürftig." Etwa die Hälfte aller Patienten landet darum zu Recht auf dem Operationstisch.

Mögliche Komplikation, so Schmittenbacher: "Die operative Therapie dieser Frakturen kann zu Fehlwachstum führen, wenn die Wachstumsfuge durch die Therapiemaßnahme gestört wird." In den allermeisten Fällen jedoch gehe bei beiden Verfahren alles gut - wie bei Deniz, der heute wieder fröhlich herumtobt, und bei Franz, der manchmal vergisst, welchen Arm er sich damals eigentlich gebrochen hatte.

Die Eltern beider Kinder sind mit der Behandlung sehr zufrieden. So richtig nutzen, meint Wessel, werde diese Studie jedoch erst den Kindern von morgen: Wenn mehr und mehr Kliniken das konservative Verfahren neu oder wieder entdecken. Und wenn kein Kind mit Radius- oder Ulnafraktur mehr unnötig auf den Operationstisch muss.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort