Magerwahn

Saarbrücken · Kleidergröße XS zu tragen, dieser Traum führt vor allem bei jungen Frauen zur Magersucht. In der Online-Bewegung „Pro-Ana“ treffen Essgestörte auf Gleichgesinnte. Doch geholfen wird ihnen hier nicht. Im Gegenteil: Die Anhänger spornen sich zum Hungern an.

Essstörung als Lebensstil: Diese Idee will die Pro-Ana-Bewegung vermitteln, die in den neunziger Jahren in den USA entstanden ist und sich mittlerweile auf der ganzen Welt ausgebreitet hat. "Ana" steht dabei für die Krankheit Anorexia Nervosa, Magersucht . Pro-Ana-Anhänger propagieren die Magersucht als erstrebenswertes Ziel. Laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) ist das bewusste Herbeiführen eines starken Gewichtsverlusts typisch für Magersüchtige. Betroffen sind meist junge Frauen, die sich selbst auch dann noch als zu dick empfinden, wenn sie schon an starkem Untergewicht leiden. Die Zahlen sind alarmierend: Einer Studie des Robert-Koch-Instituts zufolge gibt es bei jedem dritten Mädchen zwischen 14 und 17 Jahren Hinweise auf eine Essstörung.

Doch bei Pro-Ana wird ihnen nicht geholfen, im Gegenteil: Die Mitglieder spornen sich gegenseitig dazu an, noch weniger zu essen. Im extremsten Fall bis zum Tod. "Du bist es nicht wert, irgendetwas zu essen! Du bist so widerlich!" So lauten die noch harmloseren Sprüche von Ana, die in den Online-Foren wie eine Freundin behandelt wird. Im Netz gibt die personifizierte Essstörung den Mädchen Anweisungen, beleidigt sie, verbietet ihnen, ein normales Leben zu führen.

Die Hauptaktivität dieser makaberen Bewegung liegt im Internet: Auf Webseiten, Blogs und in Facebook vermittelt sie Opfern ein verzerrtes Bild von sich selbst und der Realität. Die länderübergreifende Stelle für den Jugendschutz im Internet, jugendschutz.net, geht bereits seit Jahren gegen derartige Angebote vor und veranlasst gegebenenfalls Sperrungen. Die Richtlinien des sozialen Netzwerks Facebook beinhalten ebenfalls das Verbot solcher gefährdender Inhalte. Die App Instagram hat bereits Hashtags (Schlagwörter) gesperrt, die für die Idealisierung von Essstörungen benutzt werden.

Mit der Verbreitung von Smartphones und Nachrichtendiensten wie Whatsapp erhielt der gefährliche Trend laut jugendschutz.net eine neue Plattform. Da die Chats und Gruppen für die Öffentlichkeit nicht einsehbar sind, haben radikale Pro-Ana-Anhänger freie Bahn, um ihre extremen Vorstellungen jederzeit und überall weiterzugeben. Meist müssen für den Gruppenbeitritt gewisse Voraussetzungen erfüllt sein: Der regelmäßige Zugang zu Smartphone und einer Waage ist Pflicht und eine bereits bestehende Essstörung gilt als vorausgesetzt. Ist man erst Mitglied in einer Gruppe, muss man sich an strenge Regeln halten. Jeden Tag eine Aufstellung der zu sich genommenen Kalorien, zweimal in der Woche ein Körperbild und einmal wöchentlich Auskunft über das derzeitige Gewicht, so lauten in etwa die Gesetze. Wer sich nicht an die Regeln hält, muss mit einer Bestrafung rechnen. Die anderen Mitglieder drängen in diesen Fällen etwa zu einigen Tagen komplettem Nahrungsverzicht oder Erbrechen. Kontrolliert werden kann dies zwar nicht, der Gruppenzwang hat die Betroffenen aber fest im Griff. Regelmäßig werden Ranglisten veröffentlicht, auf denen die Gewichtsabnahme der Mitglieder dokumentiert wird. Die Mitglieder auf den hinteren Plätzen werden oft gedemütigt: "Warum trägst du Kleidergröße M, wenn es doch auch XS gibt, du fette Kuh?"

Eine neue Stufe der Gefahr erreichte die Pro-Ana-Bewegung durch selbsternannte Experten, die sich Coaches (Trainer) nennen. Diese suchen gezielt Mädchen und junge Frauen, die sie unter ihrer strengen Anleitung noch weiter in den Magerwahn treiben können. Ein solcher Coach ist auch Lars (Name geändert). Er sucht im Internet Mädchen, die er "intensiv coachen" kann. Seine Anforderung: ein Body-Mass-Index (BMI) von unter 16. Ein BMI, der das Verhältnis von Körpergröße zu Gewicht angibt, gilt bei einem derartig niedrigen Wert als Anzeichen für starkes Untergewicht. In privaten E-Mails beschreibt Lars die Motivation für sein Coaching: "Für mich ist die Vorstellung, jemanden richtig dünn zu coachen, bis man die Knochen sieht, mein Lebensinhalt und Traum." Auf mögliche Nebenwirkungen angesprochen antwortet er: "Wer so aussehen möchte, nimmt diese Nebenwirkungen halt in Kauf."

Experten sind solche Coaches nicht. Laut Johanna Meyer-Gutknecht Psychologin und Expertin im Bereich Essstörung an der Klinik Münchwies in Neunkirchen, einer Fachklinik für psychische Erkrankungen, ist eine derartige Anleitung extrem gefährlich. Über die Motive könne man zwar nur spekulieren, es könne aber davon ausgegangen werden, dass Personen wie Lars selbst an einer psychischen Störung leiden. Die Coaches geben lebensgefährliche Tipps, ermutigen zu radikalen Diäten. Über Konsequenzen wird nicht gesprochen. Der BZgA zufolge stirbt mehr als jeder zehnte Patient an seiner Magersucht .

Die Pro-Ana-Bewegung gleicht einer Sekte. Dementsprechend gibt es Gebete, Gebote und "Anas Sieben Todsünden". Sätze wie "Dünn sein ist wichtiger als gesund sein" und "Nahrungsverweigerung ist Zeichen von wahrer Stärke" verdeutlichen, wie ernst die krankhaften Vorstellungen der Betroffenen zu nehmen sind. Diese sind sich in den meisten Fällen ihrer Krankheit durchaus bewusst, allerdings noch nicht an dem Punkt angekommen, an dem sie dieser entgegensteuern wollen. Das kollektive Wir-Gefühl der Gruppe verhindert den entscheidenden Schritt Richtung Genesung. Laut Psychologin Meyer-Gutknecht sind Magersüchtige neben den körperlichen Anzeichen vor allem an sozialem Rückzug und Depressionen zu erkennen. Das Umfeld sollte bei Warnzeichen die betroffene Person einfühlsam auf ein mögliches Problem ansprechen und immer wieder ihre Unterstützung anbieten, dabei aber keinesfalls zu viel Druck ausüben. Hilfe finden Betroffene und Angehörige zum Beispiel bei der BZgA oder dem ANAD e.V., einer Beratungsstelle zur Therapie von Essstörungen .

bzga-essstoerungen.de

anad.de

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