Hirn-Nahrung soll Alzheimer bremsen

Homburg · In Deutschland leben heute 1,5 Millionen Alzheimerpatienten. Ihre Zahl wächst jedes Jahr statistisch um die Bevölkerung einer Kleinstadt von rund 40 000 Einwohnern. Viele Patienten und Mediziner begegnen der heimtückischen Krankheit eher fatalistisch nach der Devise „Wen's trifft, den trifft's“. Doch jetzt zeichnet sich eine Chance ab, zumindest den Ausbruch der vollen Alzheimer-Symptome aufzuschieben.

 Bei Alzheimer baut das Gedächtnis ab, Konzentrations- und Orientierungsprobleme kommen dazu. Wer merkt, dass seine geistige Leistung über Monate nachlässt, sollte zum Arzt gehen. Grafik: Robby Lorenz

Bei Alzheimer baut das Gedächtnis ab, Konzentrations- und Orientierungsprobleme kommen dazu. Wer merkt, dass seine geistige Leistung über Monate nachlässt, sollte zum Arzt gehen. Grafik: Robby Lorenz

Wer sich wegen des Themas Alzheimer um seine Gesundheit oder die eines Angehörigen Gedanken macht, sollte sich zunächst zwei einfache Fragen stellen: "Wird ihr Gedächtnis schlechter?" und "Macht ihnen das Sorgen?" Wer in beiden Fällen mit "Ja" antwortet, hat statistisch ein sechsfach erhöhtes Risiko, hat eine Studie der Uniklinik Bonn ergeben. "Hier geht es natürlich nicht darum, ob jemand gelegentlich einmal den Vornamen eines Bekannten vergisst oder den Hausschlüssel verlegt hat", erklärt Professor Tobias Hartmann, Leiter des Deutschen Instituts für Demenzprävention der Uniklinik Homburg . "Wer aber feststellt, dass seine geistige Leistungsfähigkeit deutlich nachlässt und bemerkt, dass sich dies über Monate hinweg verschlimmert, der sollte einen Arzt um Rat fragen."

Allerdings gehen nicht nur viele Patienten , sondern auch Ärzte ans Angstthema Demenz eher zögerlich heran, hat gerade die Delphi-Studie des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Greifswald und Rostock gezeigt. Dessen Forscher ließen 7000 Patienten in über 130 Hausarztpraxen einfache Gedächtnistests absolvieren. Das Resultat war verwirrend. Obwohl die Ergebnisse bei 1200 Patienten Hinweise auf frühe Demenz-Stadien gaben, sei die Diagnose bei weniger als der Hälfte von den Ärzten gestellt gewesen, so Professor Stefan Teipel vom DZNE. Warum warteten die Mediziner so lange? Es könnte daran liegen, so Teipel, dass viele überzeugt seien, bei Alzheimer nicht viel helfen zu können. "Sie wollen nicht darüber sprechen, weil sie keine einfache Behandlung anbieten können", erklärt der Homburger Demenzforscher Tobias Hartmann.

Doch obwohl es nach heutigem Wissensstand keine wirkliche Heilung gibt, plädieren beide Forscher ausdrücklich für die frühe Diagnose. Sie könne vielen Patienten und ihren Familien helfen, mit der Krankheit besser umzugehen, so Teipel. Und sie biete nach neuesten Forschungsergebnissen auch eine Chance, den vollen Ausbruch aller Alzheimer-Symptome um Monate, vielleicht sogar Jahre hinauszuzögern, so der Leiter des Homburger Instituts für Demenzprävention.

"Alzheimer", so Tobias Hartmann, "ist im Grunde eine banale Stoffwechselkrankheit." Die Risikofaktoren stimmten weitgehend mit denen der meisten Herz-Kreislauf-Leiden überein: Bluthochdruck, Übergewicht, schlechte Blutzucker- und Cholesterinwerte. Wer darüber hinaus keinen Sport treibe, soziale Kontakte vernachlässige, geistige Herausforderungen meide und zu wenig schlafe, multipliziere seine Risikofaktoren. Das bedeutet im Umkehrschluss aber auch, dass eine gesunde Lebensführung und eine Ernährung nach dem Vorbild der mediterranen Küche das Alzheimer-Risiko höchstwahrscheinlich reduzieren können, haben 2014 Untersuchungen des Labors für Experimentelle Neurologie der Homburger Uniklinik ergeben.

Alzheimer lässt sich heute bei Untersuchungen des Gehirns und der Rückenmarkflüssigkeit schon Jahre bevor die ersten schweren Symptome sichtbar werden diagnostizieren, so Tobias Hartmann. Wenn der Krankheitsprozess in Gang gekommen ist, sei es für eine einfache Diät natürlich zu spät - doch diesen Patienten könne mit einer speziellen Nährstoffkombination geholfen werden, die auf den Stoffwechsel der Nervenzellen wirkt. Das ist das Ergebnis einer klinischen Studie des von der EU finanzierten Lipididiet-Projekts mit über 300 Patienten in Finnland, Schweden, den Niederlanden und Deutschland. Hartmann ist Koordinator des seit 2008 laufenden EU-Programms, in dem 16 europäische Forschungseinrichtungen zusammenarbeiten.

Die Wissenschaftler des Lipididiet-Projekts gehen davon aus, dass bestimmte Lipide, fettlösliche Substanzen, zu deren bekanntesten Vertretern das Cholesterin gehört, eine zentrale Rolle bei der Entwicklung der Alzheimer-Demenz spielen. Das Gehirn ist das Organ mit der größten Cholesterinansammlung unseres Körpers, denn Cholesterin ist ein wichtiger Baustein der Mem-branen der Nervenzellen . Das 1,3 Kilogramm schwere Hirn eines Menschen enthält bis zu 40 Gramm davon. Cholesterin ist aber nicht nur Baustein der Nervenzellen , es wirkt auch selbst auf den Stoffwechsel. Dabei verstärkt es unter anderem in der Zellmembran einen biochemischen Prozess, bei dem das Protein Amyloid-Beta entsteht, das wiederum eine Schlüsselrolle bei der Demenz spielt. Wenn es gelänge, so die Überlegung der Forscher, Cholesterin in den Zellmembranen durch Substanzen zu ersetzen, die diese Nebenwirkung nicht haben, gewännen die Nervenzellen Zeit, um das gefährliche Protein abzubauen. Gleichzeitig könnte durch weitere Nährstoffe der Zellschutz verstärkt werden. Diesen Effekt soll eine Kombination aus Omega-3- Fettsäuren, Vitaminen der B-Gruppe, Selen und weiteren Nährstoffen in einer medizinischen Trinknahrung erzielen.

Bei Alzheimer-Patienten , die diese Fortasyn Connect genannte Rezeptur unter ärztlicher Kontrolle täglich schluckten, stellte sich der erwartete Effekt tatsächlich teilweise ein, erklärt Hartmann. Der Homburger Forscher spricht von "einem einfachen Behandlungsprinzip, bei dem sich aber schon sehr ordentlich etwas tut". Bei Patienten im Frühstadium, die diese Gehirnnahrung täglich schluckten, sei die Gedächtnisleistung zwei Jahre konstant geblieben, und sie seien allgemein mit den Problemen des Alltags besser zurechtgekommen. Patienten die ein Placebo bekamen, hätten dagegen merklich abgebaut. Außerdem habe das Nahrungsergänzungsmittel den Schrumpfprozess des Hippocampus, er ist die Schaltzentrale des Hirns fürs Langzeitgedächtnis, um fast 40 Prozent gebremst. "Das sind schon massive Auswirkungen." Im Verlauf einer Alzheimer-Demenz verringert sich in der Regel die Hirnmasse eines Patienten um bis zu ein Drittel.

Auch wenn es das erste Mal ist, dass Wissenschaftler die Wirkung eines Nahrungsergänzungsmittels für Patienten im Frühstadium der Alzheimer-Krankheit nachgewiesen haben, bleibt der Demenzforscher der Saar-Uni in seinem Gesamturteil aber vorsichtig. Denn bisher könne die Frage noch nicht beantwortet werden, ob die medizinische Nahrungsergänzungung die Hirnfunktionen insgesamt verbessere. Dafür sei wahrscheinlich sogar die sich jetzt anschließende, sechsjährige Folgestudie noch kurz bemessen. "Eine Heilung von Alzheimer gibt es nach dem heutigen Stand des Wissens nicht." Trotzdem sei das "unerwartet positive Ergebnis" der Lipididiet-Studie ein ermutigendes Signal. Es zeige auch, wie wichtig bei Alzheimer die Früherkennung ist - und eine rasche Reaktion. Denn am stärksten hätten von der Nahrungsergänzung Patienten profitiert, die diese medizinische Gehirnnahrung in den frühesten Stadien der Krankheit erhielten.

didp.org

lipididiet.eu

Die Auslöser von Alzheimer sind noch nicht in allen Details bekannt. Doch die Mediziner wissen, dass sich das Gehirn bereits Jahre bevor erste Krankheitsanzeichen sichtbar werden verändert. Treten die typischen Symptome auf, können schon viele Nervenzellen abgestorben sein. Die Therapie beginnt dann zu spät, erklärt die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin. Deshalb sei die Früherkennung wichtig, so Dr. Judith Alferink, Oberärztin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Uni Münster. Spezialisierte Gedächtnisambulanzen könnten heute mit hoher Genauigkeit die Alzheimer-Krankheit vorhergesagen, erklärt die Ärztin, die die Rolle von Immunzellen im Gehirn erforscht. Auch wenn die Krankheit bislang nicht heilbar sei, könne ihre Entwicklung durch eine rechtzeitige Behandlung verlangsamt werden.

Bei der Suche nach neuen Therapien werde auch untersucht, "ob man Patienten schon früh gegen die gefährlichen Eiweißablagerungen im Gehirn impfen kann, die die Krankheit kennzeichnen", erklärt die Medizinerin.

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