Nutzung sozialer Medien Segeln hilft, vom Surfen loszukommen

Saarbrücken · Ein Forschungsprojekt schickt Jugendliche auf Schiffsreise und untersucht, wie sie auf einen wochenlangen Internet-Entzug reagieren.

 Wer als junger Mensch wissen will, was gerade angesagt ist, wo sich die Freunde treffen, welche Serie man keinesfalls verpassen darf oder wer nur mal eben mitteilen möchte, wie es so geht und was man gerade macht, braucht vor allem eins: ein Smartphone. Laut aktuellen Zahlen zur Mediennutzung, die das Internationale Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) erhoben hat, besitzen 97 Prozent aller Jugendlichen in Deutschland ein solches Mobiltelefon – und ebenso viele nutzen täglich das Internet. Das wichtigste Motiv ist mit 82 Prozent „Spaß“, dicht gefolgt von „nützlich für den Alltag“, „Denkanstöße bekommen“, „Information“ und „mitreden können“.

„Status-Updates, neue Bilder, Einladungen und Eilmeldungen per Push-Nachricht: Viele Jugendliche sind ständig online“, weiß auch Kristin Langer, Mediencoach der Initiative „Schau hin! Was dein Kind mit Medien macht“. Dies verleite Kinder dazu, ständig auf ihre Handys zu schauen sowie unkonzentriert und unruhig zu sein. Dahinter stecke oft die Angst, etwas Wichtiges zu verpassen und damit „off“, also vom Nachrichtenstrom abgeschnitten zu sein. Oder, noch schlimmer, „out“ zu sein, also ausgeschlossen von der Kommunikation in der Gruppe.

Was aber passiert, wenn Jugendliche von sozialen Medien getrennt sind? Haben sie Entzugserscheinungen oder vermissen sie gar nichts? Dieser Frage gingen Bildungsforscher der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) in einer besonderen Umgebung nach: dem „Klassenzimmer unter Segeln“. Sechs Monate lang waren 34 Schüler der zehnte Jahrgangsstufe mit dem Dreimaster „Thor Heyerdahl“ unterwegs – ganz ohne WLAN. Professor Thomas Eberle und Doktor Zinaida Adelhardt vom Institut für Erziehungswissenschaften der FAU haben das Verhalten Kinder dabei beobachtet.

Viele bisherige Studien untersuchten nur sehr kurze Zeiträume der Internetabstinenz, etwa ein paar Stunden oder einen Tag. In diesem Projekt dagegen gab es Offline-Zeiten von bis zu drei Wochen. Die Jugendlichen hätten darauf sehr unterschiedlich reagiert: Ein Teil habe berichtet, dass sie ruhiger schliefen und sich über mehr Lebensqualität freuten. „Sie sprachen sogar von einer großen Entlastung, weil sie nicht ständig online sein müssen“, so Adelhardt, die das Projekt „Medienentzug“ leitete. Andere Jugendliche hätten den seltenen Landgängen entgegengefiebert, um dort per WLAN die sozialen Medien zu nutzen. Die dritte Gruppe sei schon vor dem Segeltörn sehr wenig im Internet aktiv gewesen und sei erwartungsgemäß von ihrer skeptisch-kritische Haltung gegenüber sozialen Medien nicht abgerückt.

Ein weiteres Resultat: „Innerhalb von nur drei Wochen nach Medienisolation nahmen die negativen Einstellungen gegenüber Sozialen Medien bei den Schülern signifikant zu“, bilanzieren Eberle und Adelhardt. „Die positiven Einstellungen nahmen dagegen deutlich ab.“ Wie diese Einstellungsänderungen das Medien-Verhalten der Jugendlichen langfristig beeinflussen könnten, sollen weitere Untersuchungen zeigen.

Doch Jugendliche können auch eine digitale Auszeit nehmen. ohne gleich auf eine sechsmonatige Segeltour zu gehen. „Man muss nicht ständig verfügbar und up to date sein“, meint Kristin Langer. Eltern könnten mit ihrem Kind internetfreie Zeiten vereinbaren und sollten selbst Vorbild sein. So könne das Handy etwa beim Essen, bei den Hausaufgaben oder vor dem Schlafengehen Sendepause haben.

Und natürlich mache es auch Sinn, mal über einen längeren Zeitraum – vielleicht in den Ferien oder am Wochenende – dem Netz fernzubleiben. „Ich kenne viele Familien, die das gemacht haben oder Schulklassen als Projekt“, berichtet Langer. Zunächst seien alle Beteiligten skeptisch gewesen und hätten gesagt, dass sie sich eine handyfreie Zeit nicht vorstellen könnten. „Aber im Nachhinein haben schätzungsweise 98 Prozent gesagt, dass es war gar nicht so schlecht war.“

Auch die AOK Rheinland/Hamburg reagiert auf die stetig steigende Smartphone-Nutzung: Sie veranstaltet für Jugendliche ab der 8. Klasse die Aktion „#Sendepause“. Die Herausforderung im Schulwettbewerb lautet: Möglichst wenig das Smartphone nutzen. Knapp 6200 Jugendliche und junge Erwachsene von 11 bis 21 Jahren nahmen an der jüngsten Aktion teil. Sie luden eine App herunter, die die Nutzungsdauer des Smartphones misst. Mit dem Verzicht sammelten sie Punkte – als Gewinn winkten Konzert-Tickets.

Aber auch ohne einen solchen Wettbewerb kann es sich lohnen, Handy und Tablet einfach mal auszuschalten. „Junge Heranwachsende, die das tun, kommen oft zu dem Ergebnis, dass es auf einmal gar nicht mehr so stressig ist. Sie haben Zeit für Dinge, die sie gerne tun, aber wegen des Chattens oder der Internetangebote gar nicht mehr tun“, berichtet Langer.

Und genau das sei auch die Intention von Aktionen wie „#Sendepause“. Es gehe nicht darum, etwas zu verordnen, was unverträglich ist, sondern darum, alltagstaugliche Ideen zu finden. „Einfach, damit man sich besinnt und überlegt: Welchen Stellenwert haben diese Mediengeräte in meinem Alltag und habe ich das noch im Griff?“ Eltern und Heranwachsende sollten, so Langer, für sich selbst erkennen: Wir sind diejenigen, die über die Medien bestimmen und nicht umgekehrt.

Der Berliner Technik- und Zukunftsforscher Max Thinius weiß, dass es manchen Kindern schwer fällt von den sozialen Medien zu lassen. „Vor allem dann, wenn es um Jugendliche geht, die in unserer heutigen Welt oft nicht genug Bestätigung durch Leitbilder wie zum Beispiel die Eltern erhalten.“ Die Kinder gerieten schnell in einen Rausch, da es im Netz leicht sei, Bestätigung zu erhalten und „Missfallen“ hingegen selten ausgedrückt werde. „Zumal die Algorithmen der Social-Media Dienste vor allem ‚Gleichgesinnte‘ zusammenschalten“, so Thinius. „Das erzeugt eine ‚vorgespielte‘ echte Zugehörigkeit, die wir ihnen im Alltag immer weniger gönnen.“

Dass diese Zugehörigkeit nicht vorhanden sei, liege an dem gesellschaftlichen Streben, Bildungssysteme, Umwelt und Alltag immer effizienter zu gestalten und immer weniger Freiraum zur Selbstverwirklichung zu lassen. „Wo sollen Jugendliche, die heute zum Beispiel oft in Ganztagsschulen sind, also fast immer unter Aufsicht, sich noch entfalten und „Quatsch“ machen?“ fragt Thinius. „Selbstverwirklichung geht nur an einem Ort, an dem sie unbeobachtet sind und wo Erwachsene und Aufsichtspersonen ihnen nicht folgen können“, meint der Futurologe. „Die sozialen Netze sind genau dieser Ort.“ Die wahre Antwort auf das Problem heiße also nicht „Social Media Detox“, sondern „Freiraum und weniger auf Effizienz ausgerichtete Gestaltung des Alltags“, folgert Thinius. Soziale Netzwerke könnten in einem solchen lockeren Umfeld sogar als wichtige Bereicherung der Kontakt- und Gestaltungsmöglichkeiten dienen.

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