Das Meer wird zur Mülltonne

Saarbrücken · Aus den Augen aus dem Sinn. Nach diesem Motto wurde jahrelang Müll ins Meer gekippt. Darunter sind Millionen Tonnen Kunststoffe, die praktisch nicht verrotten. Das kann fatale Konsequenzen haben, warnen Forscher. 2050 könnte erstmals mehr Plastikmüll als Fisch in den Ozeanen schwimmen.

Mit gutem Recht wird unser Zeitalter auch als die Plastikzeit bezeichnet. Das hat zwei Gründe. Einen guten und einen schlechten. Unter Materialforschern gelten Kunststoffe als segensreiche Erfindung. Sie lassen sich für eine große Zahl von Anwendungen maßschneidern. Davon profitieren wir alle täglich. Hunderte von Gegenständen aus Plastik gehen durch unsere Hände. Vom Kunststoffwecker am Morgen bis zur Fernbedienung am Abend - Plastik lässt sich beliebig formen und in Härte, Elastizität, Transparenz und Farbe frei einstellen. Und diese Kunststoffe sind zudem robust, haltbar und praktisch unverwüstlich.

Das ist meist gewollt, doch wird es schnell auch zum Problem, wenn die Schattenseite der Plastikwirtschaft ans Licht kommt. Denn als Abfall wird Plastik - und das ist die zweite Wahrheit - zu einem Problem, vor allem in den Meeren. Und das ist dann dauerhaft. "Endstation Meer" hieß im Jahr 2012 eine Ausstellung in Zürich, die dieses Thema einer breiten Öffentlichkeit vor Augen führen wollte.

In der Mitte der Ausstellungsfläche hatten die Schweizer damals schlicht einen Berg an Plastikmüll aufgetürmt, gesammelt an den Stränden der Nordsee. Dort ist der Müll längst auch zu einem touristischen Problem geworden. Nach Schätzungen des Umweltbundesamtes werden an die Nordseeinsel Sylt täglich bis zu zwei Tonnen Müll angespült.

Kommunen an Nord- und Ostsee geben viele Millionen Euro für die Reinigung der Strände aus, berichtet Gerd Liebezeit, Meeresbiologe von der Universität Oldenburg. Liebezeit forscht über Plastik im Meer.

Der Biologe hat westlich der Nordseeinsel Juist den Müll auf der unbewohnte Kachelotplatte kartiert. "70 Prozent des Mülls an der unbewohnten Insel ist Plastik", sagt der Forscher. Je nach Dichte schwimmen Kunststoffe im offenen Meer mal oben, oder sie sinken in die Tiefe. In großen Weltmeeren formen sich riesige Müllstrudel. Wellen und Ultraviolett-Strahlen zerkleinern das Material zu Bröseln und Mikroplastik. Viele Tiere und Plankton nehmen die Polymere auf. Teils verenden sie daran, teils schleusen sie die giftigen Substanzen wieder in die Nahrungskette des Menschen zurück.

Erschreckend sind Bilder, die in Fischernetzen und -leinen tödlich eingeschnürte Robben oder Wale zeigen. Einer Schätzung zufolge machen zehn Prozent des Meeresmülls sogenannte Geisternetze der Fischerei aus. Sie gingen unbeabsichtigt über Bord oder würden mitunter auch mutwillig entsorgt, so die Umweltschutzorganisation Greenpeace , die in einer Kampagne jüngst gegen Geisternetze protestierte. Jedes Jahr gingen allein in europäischen Meeren Netze mit einer Gesamtlänge von Rom bis Hamburg über Bord. Diese Verluste müssten von den Fischern gemeldet werden, fordert die Umweltschutzorganisation. Über regelmäßige Bergeaktionen könnten Geisternetze, die eine Beständigkeit von 600 Jahren hätten, wieder aus dem Meer gefischt werden. Plastikflaschen überdauern vier Jahrhunderte im Meer, Aludosen 200 Jahre, Plastiktüten bis zu zwanzig Jahre. Ein Plastiktütenverbot oder eine Abgabe pro Tüte sei daher auf jeden Fall sinnvoll, erklärt Liebezeit.

Die Deutschen stünden beim Umweltschutz keinesfalls so gut da, wie sie vielleicht glauben. Pro Person landeten in Deutschland jährlich 3,7 Kilogramm Plastikmüll in der Natur, in Frankreich seien es nur 1,5 Kilogramm, in den USA zwei Kilogramm.

Der aktuelle Trend führt allerdings nicht zu weniger Plastikmüll . So haben die Chemieriesen BASF in Ludwigshafen und Bayer in Dormagen riesige Anlagen für Plastikvorläuferprodukte gebaut. Und die Unternehmen ersinnen immer neue Produktideen und Anwendungsmöglichkeiten für Kunststoffe . Der Verbraucher nimmt das dankbar an. Vom Kaffee im Becher-to-go bis zur kunststoffumschlossenen Salatration für zwischendurch finden viele Produkte reißenden Absatz.

Fleecebekleidung kann durch Waschen rund zehn Prozent der Fasern verlieren. Die gelangen in die Umwelt. Kläranlagen halten sie allerdings nur dann zurück, wenn sie mit speziellen Filtern ausgerüstet sind. Einer Studie des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung zufolge war das nur bei einer von zwölf untersuchten Kläranlagen der Fall.

Genauso beim Mikroplastik. Das sind Kügelchen oder Granulat, die kleiner als fünf Millimeter sind. Je kleiner die Partikel, desto schwerer haben es die Kläranlagen . Die Plastikkügelchen stecken beispielsweise in Zahnpasta, Kosmetika und Duschgels. Sie sollen helfen, Zahnstein, Schmutz oder Hautschuppen besser abzuschmirgeln. Je kleiner die Teilchen, desto leichter gelangen sie in Flüsse und Meere. Da Schadstoffe sich ans Mikroplastik anlagern, mutieren die Plastikkügelchen zu Giftpartikeln.

Ein Umdenken hat aber eingesetzt. "In Zahnpasta findet sich kein Mikroplastik mehr", sagt Liebezeit. Für die meisten Duschgels gelte inzwischen Ähnliches. Der Meeresbiologe lässt dennoch keinen Optimismus aufkommen und verweist schlicht auf eine Prognose zum Plastik-Fisch-Verhältnis in den Weltmeeren. Das liegt derzeit bei etwa fünf zu eins. Das bedeutet, auf fünf Kilogramm Fisch kommt ein Kilogramm Plastik im Meer. "Ab dem Jahr 2050 haben wir mehr Plastik als Fisch im Ozean", sagt der Forscher voraus.

Im Jahr 2010 haben die 192 Küstenstaaten der Welt rund 275 Millionen Tonnen Plastikmüll produziert. Zwischen 4,8 und 12,7 Millionen Tonnen gelangten davon ins Meer, hat ein US-amerikanisches Forscherteam um Jenna Jambeck von der University of Georgia abgeschätzt. Wenn sich Müllmanagement und Infrastruktur nicht deutlich verbesserten, könnte es im Jahr 2025 die zehnfache Menge sein, befürchten die Forscher. Gegensteuern lässt sich laut Liebezeit auf Verbraucherseite nur durch Maßhalten, bewusst einkaufen, Verzicht und Alternativen. Baumwolltasche oder Einkaufskorb statt Plastiktüte. Es müsse nicht jedes Bonbon, jedes Schokostückchen einzeln verpackt sein.

Zum Thema Mikroplastik weiß die Wissenschaft bisher recht wenig zu sagen. Präzise Antworten sind häufig nicht möglich, weil Daten fehlen oder weil verfügbare Informationen schwierig zu vergleichen sind, weil sie zum Beispiel veraltet sind. Oft gibt es auch nur Schätzungen. Das Umweltbundesamt (UBA) geht in einer Analyse aus dem vergangenen Jahr davon aus, dass sechs bis zehn Prozent der weltweiten Kunststoffproduktion irgendwann im Meer enden.

In der EU werden nach der UBA-Untersuchung 57 Millionen Tonnen Kunststoffe pro Jahr hergestellt. Das würde bedeuten, dass jährlich bis zu fünf Millionen Tonnen Plastikmüll aus EU-Ländern im Meer versinken. Und in der EU wird nur ein Fünftel des weltweit verbrauchten Kunststoffs hergestellt. Rund 600 000 Tonnen pro Jahr wiegen zum Beispiel laut UBA die Plastiktüten, die in der europäischen Union produziert werden. Weniger bekannt ist dagegen, dass in Europa etwa ebenso viel Abrieb von Autoreifen entsteht.

Selbst in der Tiefsee wird mittlerweile Plastikmüll gefunden, warnt das Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung . Dessen Biologen betreiben eine Forschungsstation in 5500 Metern Tiefe in der östlichen Framstraße, einem Teil des Atlantiks zwischen Grönland und Spitzbergen. Die Roboterfahrzeuge, die dort eigentlich die Artenvielfalt in der Tiefe dokumentieren sollen, stießen immer häufiger auf Plastikreste. In zehn Jahren habe sich die Müllmenge auf dem Meeresgrund verdoppelt, so das AWI.

Leidtragende der zunehmenden Verschmutzung seien zunächst die Tiefsee-Bewohner. Der Abfall könne aber schneller als gedacht wieder an die Oberfläche zurückkehren. Wenn Kunststoffe im Meer durch Abbauprozesse in immer kleinere Fragmente zerbröseln, entsteht Mikroplastik, das von Kleinkrebsen, Fischlarven und anderen Organismen verschluckt wird, die wiederum von größeren Tieren gefressen werden. Und von denen stehen einige wiederum auf dem Speiseplan des Menschen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort