SZ-Interview Über die Pflicht zur Flüchtlingshilfe

Eine Philosophin der Saar-Uni erklärt, warum Staaten Menschen in Not helfen müssen. Und welche Grenze es für die Aufnahme gibt.

 Die Philosophin Susanne Mantel forscht über den Zusammenhang von Moral und gesellschaftlichem Handeln. 

Die Philosophin Susanne Mantel forscht über den Zusammenhang von Moral und gesellschaftlichem Handeln. 

Foto: Iris Maria Maurer

Saarbrücken Susanne Mantel ist Dozentin für praktische Philosophie an der Universität des Saarlandes. Sie beschäftigt sich vor allem mit den Gründen moralischer Handlungen.

Frau Mantel, Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach in Bezug auf Hilfe für Flüchtlinge von einem „humanitären Imperativ“. Gibt es den wirklich – und was kann man sich darunter vorstellen?

MANTEL Natürlich glaubt die Mehrheit der Moralphilosophen, dass es moralische Imperative gibt und insbesondere Imperative humanitärer Natur. Und wenn es um die Grundbedürfnisse von Menschen geht, sind auch sonst die Wenigsten Moralskeptiker. Allerdings ist es in der Flüchtlingskrise schwierig, einen unumstrittenen moralischen Imperativ zu finden. Das ist deswegen so, weil es sich um Hilfspflichten handelt.

Was bedeutet das?

MANTEL Hilfspflichten besagen, dass man etwas leisten soll für andere, denen es schlechter geht. Sie  gehören zu den sogenannten positiven Pflichten. Anders als negative Pflichten – beispielsweise „Du sollst niemanden ohne Rechtfertigung verletzen“ – sind sie anspruchsvoll. Es kostet Zeit und Ressourcen, Hilfspflichten zu erfüllen. Deshalb bereiten sie mehr Kopfzerbrechen als negative Pflichten.

Was spricht für sie, was dagegen?

MANTEL Gegen Hilfspflichten spricht etwa die Ansicht mancher, dass man die Moral aus dem rationalen Eigeninteresse ableiten könnte. Das halte ich aber für eine intuitiv wenig überzeugende Position. Kaum jemand vertritt ernsthaft die Meinung, dass man einem Verletzten nicht zu helfen braucht, wenn man nichts davon hat. Das stärkste Argument für Hilfspflichten setzt bei unserer Intuition an, dass es in der Moral nicht nur um den Eigennutz, sondern um das Wohl aller geht: Jeder Mensch zählt moralisch gleich viel. Politisch drückt sich das in dem Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ aus. Das heißt, auch unser Staatssystem baut auf einer Art moralischem Imperativ auf. Daraus leitet man ab, dass das Leid und die bittere Not von Menschen nicht gleichgültig sein können.

Nun gibt es sehr viel Leid und bittere Not auf der Welt. Ab wann ist eine Gruppe, die nicht direkt davon betroffen ist, verpflichtet, der betroffenen Gruppe zu helfen?

MANTEL Das ist die Frage, die die Flüchtlingsthematik aus moralischer Sicht wahnsinnig kompliziert macht. Dazu gibt es sehr viele unterschiedliche Ansichten. Der Alltagsmoral zufolge ist derjenige zur Hilfe verpflichtet, der am nächsten dran ist. Jemandem, der vor unseren Augen in einem Teich ertrinkt, müssen wir helfen, sonst gelten wir als schlechte Menschen. Wenn die Not weiter entfernte Gruppen betrifft, sind unsere Intuitionen nicht mehr so eindeutig. Laut Immanuel Kant liegt es in unserem eigenen Ermessen, wie viel Hilfe genau von uns verlangt werden kann und wem gegenüber sie geleistet werden sollte. Die Utilitaristen hingegen würden sagen, dass man so viel helfen soll, wie man kann, ohne dass man sich selbst noch größeren Schaden zufügt als man anderen erspart.

Übertragen auf den Staat: Enden die Hilfspflichten, wenn durch die Aufnahme einer zu großen Zahl die Gesellschaft destabilisiert würde?

MANTEL Wenn man den eigenen Staat destabilisiert, dann ist das sicherlich ein Punkt, an dem man sagen kann: Hier endet die Hilfspflicht. Auch moralisch betrachtet wäre es Wahnsinn, wenn ein Helfer sich selbst außer Gefecht setzt. Langfristig wäre das sogar kontraproduktiv. Die empirische Frage wäre, wann diese Grenze erreicht ist. Das ist sehr schwer zu sagen.

Sie haben von Hilfspflichten gesprochen. Hat ein Staat nicht in erster Linie Schutzpflichten gegenüber den eigenen Bürgern?

MANTEL Ein Staat hat zwar besondere Schutzpflichten gegenüber seinen Bürgern, aber er hat unter normalen Umständen auch die Pflicht, Flüchtende aufzunehmen, damit jeder Mensch in einem Staat leben kann, der ihn schützt. Und zwar vor den Individuen, denen konkrete kriminelle Absichten nachgewiesen werden können und nicht vor Gruppen, die unter Generalverdacht gestellt werden.

Sind moralische Kategorien überhaupt tauglich für die Politik? Dort werden doch in erster Linie Interessen ausgehandelt.

MANTEL Das Verhältnis zwischen Politik und Moral ist tatsächlich sehr schwierig. Als Bürger fühlt man sich vielleicht nicht verpflichtet, im Sinne der Moral zu wählen, sondern im Sinne dessen, was man sich für sich selber wünscht. Andererseits sind wir Mensch nicht Moral-freie Wesen – in keinem Bereich des Lebens. Parteien vertreten auch ein Weltbild. Und die Bürger haben moralische Vorstellungen, die auch ihre Identifikation mit bestimmten politischen Programmen sehr stark beeinflussen können. Das heißt, jede demokratische Wahl ist – teilweise – auch eine moralische Auseinandersetzung.

Aber ist es klug, moralische Argumente in der öffentlichen Diskussion ins Spiel zu bringen, oder provoziert man damit nicht bei vielen Beteiligten eher eine Abwehrhaltung?

MANTEL Ich denke, dass wir als Gesellschaft nicht darum herum können, moralische Fragen etwa der Flüchtlingssituation öffentlich zu diskutieren. Die Lagerbildung und die Spaltung der Gesellschaft, die es zum Teil gibt, zeigen, dass diese Themen bisher zu wenig gemeinsam verhandelt worden sind. Unsere Welt hat sich sehr lange auf die Einzelstaaten konzentriert. Dabei ist es zu ganz großen Ungleichheiten gekommen. Im Zuge der Globalisierung lässt sich das nicht ewig so aufrechterhalten. Das macht manchen Angst, andere denken: Es ist auch Zeit, dass die Welt sich mit den unterschiedlichen Lebensbedingungen moralisch auseinandersetzt.

Können aus guten moralischen Absichten negative Konsequenzen entstehen? Konkret: Sterben im Mittelmeer mehr Menschen, weil sich ihnen Europa und Deutschland als Orte der Hoffnung darstellen?

MANTEL: Die Situation im Mittelmeer entsteht meiner Meinung nach vor allem dadurch, dass halbherzig moralisch gehandelt wird. Die Flüchtenden wissen, dass sie ihr Leben aufs Spiel setzen, wenn sie in ein Schlauchboot steigen. Denen, die sich falsche Hoffnung auf Asyl machen, könnte man die Gefahr der Überfahrt unter Umständen durch bessere Informationspolitik ersparen. Wer jedoch Asyl braucht, der flieht nicht aufgrund falscher Hoffnung, sondern weil er einfach keine andere Option hat. Asylberechtigte sollten noch effektiver geschützt werden, indem wir ihnen sichere Reisewege nicht länger vorenthalten. Es werden viel zu wenige humanitäre Visa ausgestellt. Wer sich begründete Hoffnung auf Asyl machen kann, der sollte nicht sein Leben aufs Spiel setzen müssen, um sich in Sicherheit zu bringen.

Angenommen, Machthaber setzen moralische Grundsätze gegen den Mehrheitswillen durch, wie wäre das zu bewerten?

Mantel: Wenn eine Regierung die Menschenrechte einer bestimmten Gruppe gegen den Mehrheitswillen schützte, wäre das meiner Ansicht nach moralisch sogar geboten. Es wäre falsch zu glauben, die Demokratie biete allein durch ihr Verfahren schon eine absolute moralische Legitimation. Sofern das überhaupt zutrifft, gilt es nur für rein innerstaatliche Angelegenheiten, weil dann wenigstens alle Betroffenen an der Entscheidung beteiligt waren. Wenn unsere Welt in Staaten eingeteilt wird, das Schicksal der Menschen aber so stark vernetzt ist wie in der heutigen Zeit, dann kann nicht ein Staatsvolk per Mehrheitsbeschluss die Grundrechte und das Leben der Bürger anderer Staaten zur Disposition stellen. Die Geltung allgemeiner Menschenrechte ist zurecht auch in unserer Verfassung angelegt. Unser politisches System beruht eben auf dem Grundsatz „Die Würde  des Menschen ist unantastbar“, nicht nur „Die Würde des Deutschen ist unantastbar“.

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