Gastbeitrag Sigrid Meiser-Helfrich Warum Gehörlose und Hörbehinderte nicht stumm sind

Das Wort „taubstumm“ hört Sigrid Meiser-Helfrich immer wieder, obwohl es irreführend ist, ja diskriminierend. Die Vorsitzende des Gehörlosenvereins „Bleib Treu“ Saarbrücken und Umgebung sagt: „Wir sind nicht stumm, wir wollen gehört werden!“ Sie bemüht sich mit anderen Betroffenen um mehr Aufklärung und kämpft für den Abbau von Kommunikationsbarrieren im öffentlichen Leben.

Sigrid Meiser-Helfrich

Sigrid Meiser-Helfrich

Foto: Sigrid Meiser-Helfrich/Privat

Menschen mit Hörbehinderung haben leider eine sehr schwache Lobby – sie werden nicht gehört. Das ist in allen Lebensbereichen spürbar. Wir treffen in der Öffentlichkeit immer wieder auf Unkenntnis und Vorurteile. Das beginnt schon bei den Begriffen. Die Bezeichnung „taubstumm“ ist für uns Gehörlose und alle Menschen mit Hör-Handicap eine Diskriminierung. Wir sind taub – mehr oder weniger – aber wir sind nicht stumm! Wir haben eine Sprache: die Gebärdensprache.

Gebärdensprache hat ein vollwertiges Sprachsystem

Gehörlose nutzen mehrheitlich die Deutsche Gebärdensprache. Spät Ertaubte, Hörprothesen-Träger und auch viele Schwerhörige nutzen auch die lautsprachbegleitende Gebärdensprache. Die Deutsche Gebärdensprache hat ein vollwertiges Sprachsystem, sie hat eine eigene Grammatik, ist simultan und räumlich aufgebaut und inzwischen auch als immaterielles Kulturerbe der UNESCO anerkannt. Menschen mit Hörbehinderung sind nicht stumm, sie haben eine Sprache: die Gebärdensprache, in der sie sich genauso vielfältig ausdrücken und unterhalten können, wie die Hörenden in der Lautsprache. Wir beherrschen sogar Fremdsprachen: Englisch, Französisch, Italienisch usw. können wir lesen, schreiben und gebärden! Wir können auch sprechen. Wie gut wir sprechen können, hängt davon ab, in welchem Alter wir ertaubt sind.

Das Sprechen lernen erfolgt über das Gehör und das Nachplappern. Für Menschen, die von Geburt oder frühester Kindheit an taub sind, ist dies jedoch nicht möglich. Sie müssen erst mal mühsam lernen, beim Sprechen Töne zu erzeugen, die richtigen Laute zu bilden, nicht zu leise und nicht zu laut zu sprechen. Können Sie sich vorstellen, wie Sie das lernen, wenn Sie selbst nie einen Ton gehört haben? Deshalb sprechen wir auch „anders“, aber wir sind nicht stumm. Die Gebärdensprache ist für uns Kommunikationssprache, weil wir das Gesagte nicht über das Gehör aufnehmen können. Lippenlesen ist möglich, jedoch niemals fließend, von 20 Wörtern verstehen wir vielleicht fünf, den Rest müssen wir uns oft selbst zusammenreimen.

Gesellschaftliche Teilhabe fast unmöglich

Wir können in der Gebärdensprache auch diskutieren über Gott und die Welt, aber noch immer stehen wir jeden Tag vor Kommunikationsbarrieren: bei Ämtern, Behörden, im Krankenhaus, beim Einkaufen, in so vielen Situationen des täglichen Lebens. Die Kosten für die Dolmetscher für Deutsche Gebärdensprache werden in vielen Lebensbereichen nicht übernommen, was uns immer wieder vor große Herausforderungen stellt. Gesellschaftliche Teilhabe wird uns aufgrund dieser Hürden fast unmöglich gemacht. Sie wäre für uns aber möglich. Wenn es in jedem Amt, in jeder Behörde, in jedem Krankenhaus … mindestens eine Person mit Gebärdensprachkompetenz gäbe, wäre allen schon sehr geholfen. Warum ist das so schwer?

Sigrid Meiser-Helfrich ist die Vorsitzende des Gehörlosenvereins „Bleib Treu“ Saarbrücken und Umgebung.