Serie Lebenswege Zu Marlieses Tod trug die Rußhütte Trauer

Saarbrücken · Wie ist das, von einem geliebten Menschen Abschied nehmen zu müssen? Die SZ spricht mit Angehörigen und Freunden und stellt in einer Serie Lebenswege Verstorbener vor. Heute: Marliese Schillo.

 Marliese Schillo als kleines Mädchen im Strickkleid

Marliese Schillo als kleines Mädchen im Strickkleid

Foto: Familienalbum Schillo

„Unkraut vergeht nicht!“, lautete der Standardspruch von Marliese Schillo, wenn das Schicksal ihr einen Nackenschlag verpasst hatte. Und sie musste etliche Nackenschläge verkraften. Umso erstaunlicher ist das Lebenswerk dieser bemerkenswerten Frau. Davon erzählen ihre Enkelin Raphaela Schillo, ihre Nachbarin Imma Gütschow, deren ältester Sohn Mikolai und weitere Freunde.

Marliese kam am 17. Juni 1936 als erstes Kind von Hans und Maria Welsch, geborene Lindner, im Saarbrücker Stadtteil Rußhütte zur Welt. Vier Jahre später wurde ihre Schwester Marga geboren. Im Zweiten Weltkrieg erlebte die Familie zwei Evakuierungen: 1939 nach Hessen und 1944 in den Schwarzwald. 1944 hätte Marliese zur Erstkommunion gehen sollen, doch man erfüllte ihren Wunsch, zu warten, bis der Vater aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt sein würde. 1947 war es soweit.

Nach dem Besuch der Volksschule absolvierte Marliese eine kaufmännische Ausbildung beim „Verband der Heimkehrer“ und arbeitete bis 1979 in der Verwaltung des Winterbergkrankenhauses. Im Sommer 1965 heiratete sie Karl Schillo aus Wadern, 1966 kam Sohn Franz-Josef zur Welt. Schon in jungen Jahren begeisterte sich Marliese für die Fastnacht und Fußball. Sie trat bei der katholischen Jugend Rußhütte als Funkenmariechen und „Frau Appeldätsch“ auf, und weil ihr Sohn bei Schwarz-Weiß Rußhütte (später DJK Rastpfuhl-Rußhütte) Fußball spielte, engagierte sich Marliese als Betreuerin. „Sie hat Trikots gewaschen, alles organisiert, Spenden für Tombolas gesammelt, die Mannschaften zu sich nach Hause eingeladen und bekocht“, erzählt Imma Gütschow.

Überhaupt entwickelte sich das Kochen und Backen zur größten Leidenschaft. „Oma hat sich um alle gekümmert. Liebevoll, offen, hilfsbereit. Die ganze Rußhütte war bei ihr zu Hause willkommen“, erinnert sich Enkelin Raphaela. In ihrer Zeit bei der Katholischen Frauengemeinschaft (KFD) schrieb Marliese zwei Kochbücher mit den Titeln „Oma kocht mit uns“. Das erste 1998. „Das war so erfolgreich, dass Oma 2004 auch Band zwei folgen ließ“, erzählt Raphaela. Gemeinsam mit Kindern kochte sie alle Rezepte durch und lud im Gemeindesaal von St. Marien zum großen Aufessen ein.

 Marliese Schillo an ihrem 80. Geburtstag

Marliese Schillo an ihrem 80. Geburtstag

Foto: Familienalbum Schillo

Freundin Helga Bäumchen erinnert daran, dass Marliese 20 Jahre Vorsitzende der KFD St. Marien war, die besten Ideen für Andachten hatte, Ausflüge und Pfarrfeste organisierte. 1979 wechselte Marliese Schillo vom Winterbergkrankenhaus zum Standesamt Saarbrücken, wo sie bis zu ihrem Ruhestand in der Urkundenstelle eingesetzt war. Die spätere Leiterin des Standesamtes, Gertrud Michaely-Probst, nennt Marliese Schillo „die Mutter der Kompanie“ und ergänzt: „Wer Nöte hatte, war bei ihr gut aufgehoben. Mit ihrer Weihnachtsbäckerei erfreute Marliese alle Kolleginnen und Kollegen.“

Als Enkeltochter Raphaela 1993 geboren wurde, war Marliese eine glückliche und stolze Oma und verwöhnte die Enkelin: „Raphaela war ihr Ein und Alles“, weiß Helga Bäumchen. Weil Raphaelas Vater schwer krank und ihre Mutter berufstätig war, musste Marliese ran. Und spielte dann gleich noch bei anderen Oma: bei den fünf Kindern ihrer Schwester Marga, bei den Nachbarskindern Mikolai und Adrian Gütschow, bei Anna, Tochter einer russischen Nachbarsfamilie, und bei Kindern aus Sri Lanka, die auf der Rußhütte wohnten. Marliese betreute ihre Schützlinge teilweise schon vor Schulbeginn, bekochte sie danach, spielte mit ihnen, bis die Eltern sie abholten, und half bei Hausaufgaben. „Sie war unsere Ersatz-Oma. Mein Bruder und ich ließen uns auch noch Jahre später einmal die Woche bei Marliese einladen. Jeden Mittwoch war Marliese-Tag“, erinnert sich Mikolai Gütschow lächelnd.

Marlieses Mann war da schon tot, er starb 1994 an einer Herzerkrankung, ihr Sohn starb 2005 mit nur 49 Jahren, und am 12. Mai 2014 stürzte Marliese schwer und brach sich das Schultergelenk. Bei einem späteren Sturz brach sie sich beide Arme. Doch „sie gab nie auf, rappelte sich immer wieder hoch und wollte anderen helfen“, sagt Enkelin Raphaela. Marlieses langjähriger Physiotherapeut Florian Schindler erinnert sich an eine Frau, die mehr war als eine Patientin: „Jedesmal wenn ich an ihrem Haus vorbeifahre, denke ich zurück an eine lebensfrohe Frau, die Kraft und Freude schenkte.“ Trotz körperlicher Beeinträchtigungen kochte Marliese Schillo am 17. Juni 2016 zu ihrem 80. Geburtstag wieder für die Familie und die ganze Rußhütte. „Sie hat tausend Kuchen gebacken, kalte Platten gemacht, die Leute bedient – dabei war es doch Omas Ehrentag!“, sagt die Enkelin.

Im Sommer 2019 konnte Marliese Schillo endlich einmal in Urlaub fahren. Adrian Gütschow hatte sein Abitur gemacht, packte die Ersatz-Oma mitsamt Rollator ins Auto und verbrachte mit ihr eine Woche an der Nordsee. „Sie hatte früher öfter mit ihrem Mann Urlaub an der Nordsee gemacht und wollte unbedingt noch mal dorthin“, erzählt Imma Gütschow. Seit August 2020 ging es Marliese gesundheitlich schlechter. „Aber sie versorgte sich weiter selbst“, betont Enkelin Raphaela. Hilfe bekam Marliese von ihrem Nachbarn und Freund Harry Liedke. „Sie waren für einander da, der eine half dem anderen“, sagt Imma Gütschow. Am 17. Dezember 2020 besuchte Raphaela ihre Oma: „Ich wollte für sie kochen, wir sprachen über das bevorstehende Weihnachtsfest. Tags drauf kam Oma nicht mehr aus dem Bett.“ Mikolai Gütschow schaute bei ihr vorbei: „Sie schrie vor Schmerzen, wir mussten sie ins Krankenhaus einliefern lassen.“ Dort starb Marliese Schillo am 22. Dezember 2020. „Die Rußhütte trug Trauer, aber wegen Corona konnten wir sie nur im kleinsten Kreise beerdigen lassen. Das wurde Oma gar nicht gerecht“, sagt Raphaela Schillo mit Tränen in den Augen.

Auf der Seite „Momente“ stellt die SZ im Wechsel Kirchen und Lebenswege Verstorbener vor. Online unter saarbruecker-­zeitung.de/lebenswege

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