Serie Lebenswege Er wurde ein liebenswerter Eigenbrötler
Bildstock · Wie ist das, von einem geliebten Menschen Abschied nehmen zu müssen? Die SZ spricht mit Angehörigen und Freunden und stellt in einer Serie Lebenswege Verstorbener vor. Heute: Klaus Kessel.
Der Ausdruck Eigenbrötler ist laut Duden ein Mensch, der sich absondert, seine Angelegenheiten für sich allein und auf seine Weise erledigt und anderen in seinem Verhalten merkwürdig erscheint. Die Sprachwissenschaftler und Volkskundler Jakob und Wilhelm Grimm, die gemeinsam mit Karl Lachmann und Georg Friedrich Benecke als Begründer der Germanistik gelten, definierten den Begriff anders. Für sie war ein Eigenbrötler ein Mensch, der sich selbst um seinen Hausstand kümmert. Beide Definitionen beschreiben jedoch treffend das Leben von Klaus Kessel aus Bildstock, der im vergangenen August im Alter von nur 65 Jahren gestorben ist.
Seine Ehefrau Nicole und seine Schwestern Susanne Schneider und Heike Kessel erzählen liebevoll von Klaus Kessel. Er kam am 17. Juli 1956 als erstes Kind von Anton und Käthe Kessel, geborene Coquelin, in Bildstock zur Welt. Der Vater war gelernter Schuster und betrieb ein Lederwarengeschäft, die Mutter war Herrenschneiderin. Klaus bekam noch zwei Geschwister, eben die 1963 geborene Susanne und die 1967 geborene Heike. Nach dem Hauptschulabschluss auf der Bildstocker Hoferkopfschule absolvierte Klaus eine Lehre als Starkstromelektriker bei den Saarbergwerken und war als Elektrohauer unter Tage beschäftigt. Als die Saargrubenschließung begann, wurde ihm angeboten, den Arbeitsplatz zu wechseln. „Das wollte Klaus auf gar keinen Fall. Er ließ sich nicht verpflanzen, ging dann lieber schon mit 48 Jahren in den vorgezogenen Ruhestand“, erzählt Nicole Kessel, die mit Klaus Kessel in dessen zweiter Ehe verheiratet war.
Erstmals geheiratet hatte Klaus Kessel 1973. Er war damals 17, seine Frau Waltraud Fendt aus Bildstock war 16. „Das ging damals, wenn die Eltern zustimmten und ihre Kinder als volljährig erklären ließen“, berichtet Heike Kessel. Das junge Paar blieb kinderlos, kaufte sich von den Saarbergwerken ein „Grubenhaus“ in Bildstock und baute es um. „Klaus machte alles selbst“, betont Susanne Schneider. Dann aber starb Waltraud Kessel nach schwerer Krankheit 1990 im Alter von nur 33 Jahren. „Ein Schock für Klaus, er litt sehr unter dem Verlust und begann sich einzuigeln“, erinnert sich Schwester Susanne. Und das, obwohl Klaus ein viel umworbener Mädchenschwarm war. „Er sah sehr gut aus, war immer braun gebrannt, sportlich und muskulös“, schildert seine Schwester Heike. Erst nach vier Jahren „Einsiedlertum“ begann er, sich wieder ein wenig zu öffnen, als er auf einer Feier die damals 24-jährige Nicole Wahlen aus Friedrichsthal kennen und lieben lernte. Schon ein Jahr später, am 25. August 1995, heirateten die beiden in Bildstock. Nicoles Tochter Jaqueline aus einer früheren Beziehung nahm Klaus Kessel an Kindes statt auf und gab ihr seinen Namen. 1997 bekam das Paar mit Caroline ein gemeinsames Kind. Doch das Eigenbrötlerdasein von Klaus Kessel änderte sich trotzdem kaum. „Ja, wir machten gemeinsame Ausflüge, fuhren auch ein-, zweimal in Urlaub, aber am liebsten war Klaus zu Hause. Nur wenn wir zum Essen gingen, bekam man ihn aus dem Haus, denn damit konnte man ihm eine Freude machen“, berichtet Nicole Kessel. Schwester Heike ergänzt: „Er war ein typischer Bergmann, hat alles organisiert und knaupte am liebsten in Haus und Garten.“ Ehefrau Nicole schmunzelt und sagt: „Man brauchte in Bildstock gar nicht in ein Geschäft zu gehen, wenn man etwas brauchte. Klaus hatte ja alles zu Hause.“ – „Und das sogar meist in doppelter Ausführung. Wenn er eine Kaffeemaschine kaufte, und es sich herausstellte, dass die gut war, kaufte er dieselbe nochmal“, sagt Heike Kessel.
Alles in mehrfacher Ausführung zu haben, war eine der besonderen Eigenschaften – andere würden sagen „Ticks“ – von Klaus Kessel. Ehefrau Nicole berichtet von einem zweiten „Tick“: „Sein Outfit bestand aus Jeans, weißem T-Shirt und Weste. Alles andere lag im Schrank.“ Eine weitere Geschichte charakterisiert Klaus Kessel, der gerne vorbeugte: „Er buddelte in der Garage eine große Grube. Als ich ihn fragte, was das wird, sagte er: Falls es mal Krieg gibt, dient die zu unserem Schutz.“
Klaus Kessel war ein gläubiger Katholik. Aber keiner, der jeden Sonntag in die Kirche und regelmäßig zur Beichte geht, sondern einer, der daran glaubte, dass die Seele nach dem Tode „in eine zweite Ebene“ übergeht, wie Schwester Susanne weiß. „Er glaubte an eine Parallelwelt, in die wir nach dem Tode übertreten“, sagt Susanne Schneider.
Am 17. Juli vorigen Jahres feierte Klaus Kessel mit seiner Familie noch seinen 65. Geburtstag. Er war immer um seine Gesundheit besorgt und zu allen möglichen Vorsorgeuntersuchungen gegangen. Doch bei einer dieser Untersuchungen, nur zwei Tage nach der Geburtstagsfeier, wurde ihm mitgeteilt, dass er unheilbar krank war. Danach ging alles sehr schnell. Aber Klaus Kessel wollte dort sterben, wo er sich am wohlsten fühlte: zu Hause im Kreise seiner Liebsten. „Wir waren immer bei ihm, er war nie allein. Am 9. August ist er dann gestorben“, sagt Nicole Kessel. Viel zu früh, wie alle betonen. „Im September wird unsere Tochter Caroline ein Kind bekommen, Klaus wäre sicher sehr gerne nochmal ein stolzer Opa geworden, denn unsere Tochter Jaqueline hatte ihm mit Moritz vor sieben Jahren bereits einen Enkel geschenkt“, sagt Nicole Kessel.
Am 25. August 2021 wurde Klaus Kessel auf dem Bildstocker Friedhof zu Grabe getragen. Die Trauerfeier fand in seinem Haus statt, und Tochter Caroline ließ alle Trauergäste einen letzten Gruß auf Zettel schreiben, befestigte die Zettel an Luftballons und ließ sie in den Himmel steigen – oder in die zweite Ebene, in der sich Klaus Kessel jetzt aufhalten mag?
Auf der Seite „Momente“ stellt die SZ im Wechsel Kirchen und Lebenswege Verstorbener vor. Online unter saarbruecker-zeitung.de/lebenswege