Serie Lebenswege Blind und leidgeprüft meisterte sie alles
Schiffweiler · Wie ist das, von einem geliebten Menschen Abschied nehmen zu müssen? Die SZ spricht mit Angehörigen und Freunden und stellt in einer Serie Lebenswege Verstorbener vor. Heute: Inge Schmitz.
„Alles geben die Götter, die unendlichen, Ihren Lieblingen ganz, alle Freuden, die unendlichen, alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.“ Dieses Gedicht von Goethe passt zum Leben von Inge Schmitz: „Eine außergewöhnlich, trotz vieler Schicksalsschläge, stets lebensbejahende tapfere Frau“, schreibt ihre Schwester Rosel Richter in der Traueranzeige.
1942 in Dessau als erstes Kind von Reinhold Vogel und dessen Frau Margarethe geboren, erkrankte Inge mit sechs Monaten an einem Gliom (Hirntumor, bei ihr im Sehnerv). Heute gibt es, je nach Grad, Behandlungsmethoden, doch damals war Krieg. In der Uniklinik Heidelberg wurden beide Augen entfernt. 1945 wurden Inge und Rosel Halbwaisen. Die Mama starb an den Folgen einer Diphterie-Erkrankung. Der Papa war im Krieg. Die Mädchen kamen zur Oma nach Wiesbach. 1946 zog der Vater zurück nach Wiesbach, heiratete ein Jahr später seine zweite Frau Clothilde (fortan von den Mädchen als „Mama“ anerkannt).
„1948 begann für meine Schwester ein neues Schicksalsjahr. Sie musste zur Einschulung ins Kloster Heiligenbronn bei Schramberg. Damals gab es die Blindenschule im Saarland noch nicht.“ Sechs Jahre jung, weder Freunde noch Verwandte, alles fremd, schweres Heimweh! Das änderte sich im Jahr darauf, als die Blindenschule Lebach Schüler aufnahm. „Die Schulzeit waren meine schönsten Jahre“, resümierte Inge später. Schwester Rosel ergänzt: „Alle waren gut gelaunt, von der Heimleitung über die Lehrer bis hin zum Küchenpersonal. Meine Schwester hat viel gelernt.“ Schwimmen und Lesen etwa. „Inge hat mit zwölf Jahren ihren Freischwimmer gemacht und mithilfe der Blindenschrift alles gelesen, was ihr in die Finger kam“, sagt Rosel Richter.
1957 zog Inge wieder ins Kloster im Schwarzwald, um dort bis 1960 eine Lehre als Stenotypistin („ihr Traumberuf“) abzuschließen. Sie bekam eine Stelle bei der Kreissparkasse Ottweiler und kaufte sich vom ersten Gehalt ein Kofferradio, das sie in ihrer Freizeit immer mit sich trug. Sie ging tanzen, schwimmen und lernte 1962 in einer Gruppe Sehbehinderter das Skifahren am Berg Kniebis im Schwarzwald. Abends war Après-Ski mit Feiern und Tanz. Dabei lernte sie ihren späteren Mann Manfred Schmitz kennen.
Die Eltern wollten davon nichts wissen, also nabelte sich die blinde, aber tatkräftige Tochter erfolgreich ab. Sie organisierte sich eine eigene Wohnung mit Busanschluss vor der Haustür. 1971 heiratete die junge Frau, das Paar bezog eine Wohnung in Wellesweiler. „Inges Glück war perfekt, als sie 1973 ihr Mädchen Sylvia zur Welt brachte. Das war aber der einzige Moment, in dem sie traurig war, ihr eigenes Kind nicht selbst sehen zu können.“
Ihr Mann versorgte Haushalt und Kind, Inge Schmitz ging weiter arbeiten. Als die Kleine sechs Monate alt war, ereilte sie dasselbe Augenleiden wie die Mama; allerdings konnte man wenigstens noch ein Auge retten. „Wieder ein Tiefpunkt im Leben meiner Schwester“, berichtet Rosel Richter. Dennoch: Das Kind entwickelte sich prächtig, die Familie bezog ein Eigenheim in Heiligenwald, Sylvia schaffte ihren Berufsabschluss im Fach Wirtschaftskommunikation. Sie waren eine glückliche Familie mit gemeinsamen Interessen wie Musik, Literatur, Quiz. Doch 1991 erkrankte die Tochter an einem bösartigen Gesichtstumor. OPs folgten, Rehas, doch der Krebs ließ sich nicht aufhalten. Sylvia starb 2004. Im selben Jahr musste sich der Mann einer Herzoperation unterziehen. Inge Schmitz, die 1994 von ihrem Arbeitgeber einen PC mit Sprachausgabe („Die Errungenschaft meines Lebens!“) erhalten hatte, organisierte ihr Leben neu. Sie begann Kurzgeschichten und Gedichte, tieftraurige oft, aber auch erheiternde, zu schreiben, zu veröffentlichen, zu lesen. Sie besuchte Konzerte, absolvierte mit einem Personaltrainer erfolgreich einen Nordic-Walking-Kurs, ging mit ihrer Schwester und einer Freundin wandern. Und sie ging gerne essen. „Meine Schwester war auch ein Genussmensch“, sagt Rosel Richter.
Inge Schmitz schaffte sich Geräte an, die Geldscheine oder Farben erkennbar machen, denn: „Sie wollte immer gerne gut gekleidet sein, vor allen Dingen farblich passend.“
Zwischen 2008 und ihrem Todestag am 14. Februar 2012 folgte ein Tiefschlag dem anderen: Magenleiden, Krebs, Tumor im Unterbauch mit Streuung, Totaloperation. „Am schlimmsten war es für meine Schwester, dauerhaft einen Katheter tragen zu müssen. Sie hat es im Gedicht sarkastisch als ,Mein Anhängsel‘ bezeichnet“, erzählt Rosel Richter. Als ihre Schwester dann für ihr letztes Lebensziel, ihren 70. Geburtstag, plante und von ihrem Arzt hörte „Sagen Sie die große Feier ab!“, war ihr klar, was das bedeutete. Gefeiert wurde dennoch, im kleinen Rahmen, ein emotionaler Abend, an dem Bianca, die Tochter der besten Freundin Sandra, mit ihrer „Gänsehautstimme“ Lieder zum Besten gab, unter anderem „Küss mich, halt mich, lieb mich!“.
Noch einmal leuchtete an diesem Abend die Lebensflamme von Inge Schmitz lichterloh, danach verglühte sie rapide. „Meine Schwester wollte eigentlich nicht verbrannt werden, hat aber ihre Meinung zum Schluss geändert, da sie so in einer Urne zu ihrem Kind Sylvia ins Grab konnte“, sagt die Schwester Rosel Richter abschließend. Inge Schmitz‘ Ehemann Manfred überlebte seine Frau um drei Jahre.
Auf der Seite „Momente“ stellt die SZ im Wechsel Kirchen und Lebenswege Verstorbener vor. Online unter saarbruecker-zeitung.de/lebenswege