Serie Lebenswege Beinahe hätte es mit Olympia geklappt
Dillingen · Wie ist das, von einem geliebten Menschen Abschied nehmen zu müssen? Die SZ spricht mit Angehörigen und Freunden und stellt in einer Serie Lebenswege Verstorbener vor. Heute: Heinrich „Hein“ Gillert.
Am 4. November vorigen Jahres verlor der saarländische Kanurennsport mit Heinrich „Hein“ Gillert eine herausragende Persönlichkeit. Sein langjähriger Freund und Weggefährte Karl-Heinz „Lucky“ Lukaszewsky beschreibt ihn so: „Ich habe in den 92 Jahren meines Lebens keinen angenehmeren Menschen kennengelernt.“
Elsbeth Servet-Gillert schildert als Witwe den Lebensweg eines Mannes, der im saarländischen Kanurennsport große Spuren hinterlassen hat: Heinrich Gillert kam am 20. Januar 1939 als vierter Sohn von Alois und Magdalena Gillert, geborene Ladwein, zur Welt. Er hatte noch drei ältere Brüder (Erwin, Manfred und Helmut) und zwei jüngere (Rudolf und Siegfried). „Hein“, wie er immer nur genannt wurde, durchlebte keine einfache Jugendzeit. Die Lebensumstände im und nach dem Zweiten Weltkrieg waren sehr schwer. So erzählte Hein Gillert später oft davon, dass alle Schüler im Winter 1945 Holz mit in die Volksschule Pachten bringen mussten, damit die Klassenzimmer geheizt werden konnten. Auch zu Hause herrschte Not. Man musste Hamsterfahrten unternehmen, um sich mit dem Nötigsten für die achtköpfige Familie zu versorgen. Sogar der kleine Heinrich machte sich auf, um in den Dörfern um Dillingen herum von Haus zu Haus zu gehen und um Nahrungsmittel zu bitten.
Nach der Volksschule begann Hein Gillert zunächst eine Bürolehre beim Kiesunternehmen Hektor in Rehlingen, musste sie aber wegen einer Nierenerkrankung abbrechen und ließ sich ab 1954 bei der Dillinger Firma Wilhelm Becker zum Schlosser ausbilden. Nach seiner Lehrzeit arbeitete er von 1957 bis 1963 bei mehreren Schlossereien in Dillingen und im lothringischen Guerstling, ehe er am 15. Oktober 1963 eine Anstellung bei den Dillinger Stadtwerken fand, wo er bis 2003 beschäftigt war. 1967 bestand Hein Gillert auf der Wassermeisterschule in Rosenheim die Abschlussprüfung zum Wassermeister und übte von 1980 bis zu seinem Renteneintritt bei den Stadtwerken Dillingen die Funktion des Werksmeisters bei der Wasser- und Gasversorgung aus.
Am 1. November 1954 war Hein Gillert dem Kanu-Club Dillingen beigetreten. „Seine älteren Brüder Manfred und Helmut waren schon im Club und überredeten Hein dazu, ihnen nachzueifern“, erzählt seine Witwe. Erfolge stellten sich schnell ein. So im Einerkajak, als auch mit Bruder Helmut im Zweierkajak und mit seinen Brüdern Helmut, Rudolf und Siegfried im Viererkajak, dem „Gillert-Vierer“. Hein gewann unzählige Regatten, wurde mehrfach Saarlandmeister, Süddeutscher Meister und auf der damals noch gefahrenen Langstrecke (10 000 Meter) Deutscher Vizemeister im Vierer. Er gehörte der deutschen Kanu-Nationalmannschaft an, absolvierte Ländervergleichskämpfe in Frankreich und England und hätte beinahe auch an den Olympischen Spielen in Mexiko teilgenommen. „Aber da gab es einen internen Streit, und die Olympiaträume platzen“, erzählt Elsbeth Servet-Gillert.
Sie selbst war 1960 als 14-Jährige ebenfalls Mitglied im Kanu-Club Dillingen geworden und seit 1965 mit Hein Gillert liiert. 1966 heirateten die Beiden und bekamen drei Kinder – Michael, Ulrike und Barbara. Unnötig zu erwähnen, dass auch die Kinder Mitglied im Club wurden und ebenfalls schnell zu Erfolgen kamen. „Hein sorgte auch dafür, dass die ganze Familie in den Kanu-Club eintrat, also auch Cousins und Cousinen“, erzählt Elsbeth Servet-Gillert, die ebenfalls erfolgreiche Kanusportlerin war und deutsche Jugendmeisterin wurde.
Nachdem man anfangs noch in Pachten im Elternhaus lebte, baute sich die Familie 1969 ein Haus in Dillingen. Elsbeth war gelernte Bauzeichnerin und entwarf den Bauplan, Hein kümmerte sich um das Handwerkliche. „Jedes Stück im Haus trägt seine Handschrift, nicht nur deshalb fehlt er heute“, sagt seine Witwe.
Nach seiner aktiven Rennsportzeit engagierte sich Hein Gillert ehrenamtlich. Zunächst im Vorstand als Jugendwart, danach als erster Vorsitzender. Dieses Amt hatte er über 30 Jahre lang inne. Zudem übte er viele Jahre lang das Amt eines Kampfrichterobmanns für Kanurennsport im Verband aus und war in dieser Funktion regelmäßig zu Regatten und Meisterschaften in Deutschland unterwegs. Für seine ehrenamtliche Tätigkeit und seine Verdienste wurde Hein Gillert vom Saarländischen Kanu-Bund zum Ehrenmitglied und vom Kanu-Club Dillingen zum Ehrenvorsitzenden ernannt.
Hein Gillert engagierte sich außerdem in der Kommunalpolitik. Er war fast 40 Jahre lang Mitglied der CDU und vertrat die Christdemokraten von Oktober 2006 bis Juli 2009 sowie von Juni 2011 bis Juli 2019 im Dillinger Stadtrat. Es ist nachvollziehbar, dass neben Familie, Sport und Kommunalpolitik wenig Zeit für Urlaube blieb. „Aber das war auch nicht nötig, wir kamen ja durch den Sport sehr viel rum“, sagt Elsbeth Servet-Gillert. Vor allem durch ihre Teilnahme an der „TID“ (Tour International Danubien), der längsten organisierten Kanu- und Ruderwanderfahrt der Welt. Sie wird seit 1956 jährlich auf der Donau veranstaltet. Gestartet wird am letzten Juniwochenende in Ingolstadt, von dort geht es über Österreich, die Slowakei, Ungarn, Kroatien, Serbien und Bulgarien nach Rumänien, wo die Tour Anfang September nach 2516 Kilometern in Sfantu Gheorge am Schwarzen Meer endet. „Das war zwar extrem herausfordernd und anstrengend, aber wir ließen es uns nicht nehmen, mehrfach daran teilzunehmen“, berichtet Elsbeth Servet-Gillert.
Hein Gillert starb am 4. November vorigen Jahres an den Folgen einer Diabetes- und Herzerkrankung. „Er starb, wie er gelebt hatte – ruhig und friedlich“, sagt seine Witwe.
Auf der Seite „Momente“ stellt die SZ im Wechsel Kirchen und Lebenswege Verstorbener vor. Online unter saarbruecker-zeitung.de/lebenswege