Ludwigspark – Die Geschichten eines Stadions Helmut Schön: Der Mann mit der Mütze und das Saarland

Saarbrücken · Bis heute hat kein Bundestrainer so viele Titel gesammelt wie Helmut Schön. Doch vorher hätte er beinahe das „Wunder von Bern“ verhindert – als Trainer der saarländischen Nationalmannschaft. Im Ludwigsparlstadion.

 Als Nationaltrainer im Saarland schaut Schön Spieler Kurt Clemens in die Karten. Foto: Barbian

Als Nationaltrainer im Saarland schaut Schön Spieler Kurt Clemens in die Karten. Foto: Barbian

Foto: Barbian

1921 ist "der Lange" noch ein kleiner Mann. Auf kurzen Beinen huscht der Sechsjährige durch die Gassen der Dresdner Seevorstadt. Seine Schuhe sind genagelt, das Kopfsteinpflaster ist holprig, seinen Lederball hat er am Fuß, das Saarland noch nicht im Kopf. Zu Hause habe er damals gerne mit Zinnsoldaten gespielt, schreibt Helmut Schön in seine Biografie. Das Taktieren der Figuren habe ihn fasziniert. Heute wäre Schön 100 Jahre alt geworden. 1925 startet der Sohn eines Kunsthändlers seine Karriere als Spieler bei der Dresdensia Dresden. Als er sie 1978 beendet, ist er der "erfolgreichste deutsche Nationaltrainer der Welt".

Noch heute ist er der erfolgreichste deutsche Bundestrainer , wenn die Anzahl der Titel der Maßstab sind. 1966 Vize-Weltmeister in England. Das Wembleytor. 1970 das Jahrhundertspiel im WM-Halbfinale gegen Italien in Mexiko - der gefeierte dritte Platz. 1972 der EM-Titel. Zauberfußball lässt Schön spielen. 1974 der Sieg im WM-Finale gegen die Niederlande. 1976 Zweiter bei der EM, da Uli Hoeneß im Elfmeterschießen die Nerven durchgehen. 1978 das WM-Aus nach der "Schmach von Cordoba" gegen Österreich. Schöns Ende als Nationaltrainer . "Der Lange", der "Mann mit der Mütze" und Abitur - Schlaglichter einer Karriere, die im Fußballkollektiv-Gedächtnis gespeichert sind. Was dort nicht vermerkt ist? Zum Beispiel das, was Schön 1984 in seine Biografie schreibt: "Das Saarland bot mir ein klassisches Modell dafür, was man als Bundestrainer alles machen muss und kann." Mit anderen Worten: Seine Erfolgsgeschichte wäre ohne das Saarland kaum möglich gewesen.

Erst recht nicht ohne den Völklinger Herrmann Neuberger. Der ehemalige Präsident des Deutschen Fußball-Bundes (1975 bis 1992) ist nicht nur Schöns Wegbegleiter. Er ist sein Wegbereiter. Am 14. Mai 1950 beginnt Neuberger als Präsident des damals zwei Jahre alten Saarländischen Fußballbundes (SFB) seine Funktionärskarriere. Nur einen Monat später gelingt es ihm, dass der Weltverband Fifa den SFB als Mitglied aufnimmt - drei Monate vor dem DFB. Das kann Neuberger einfädeln, weil das Saarland bis Ende 1956 unter dem Protektorat Frankreichs steht. Mit dem DFB hat der SFB offiziell nichts zu tun.

Inoffiziell schon. Neuberger ist ein guter Freund von Bundestrainer Sepp Herberger . "Der Chef" wiederum kennt Schön seit 1933. Zunächst als Nationalspieler (16 Spiele/17 Tore), den er allerdings 1941 aus der Elf rausschmeißt, weil ihm der Spieler Schön "zu weich" ist. Und als Teilnehmer seines Fußballlehrer-Lehrgangs, auf dem Schön 1949 die Lizenz ablegt. Mit Sonderbelobigung von Herberger. Als Neuberger nun einen Trainer für seine saarländische Nationalmannschaft sucht, empfiehlt Herberger ihm Schön, der gerade vor dem DDR-Regime von Dresden über Berlin nach Wiesbaden geflohen ist. So kommt es, dass der Opern- und Billardfreund am 1. Januar 1952 das Traineramt bei der saarländischen Nationalelf übernimmt.

In einem militärgrünen VW-Käfer rollt Schön durch sein neues Fußballreich. "Ich besuchte die Vereine, beobachtete die Spitzenspieler, stellte Auswahlmannschaften auf. Auch die Jugend gehörte dazu", schildert er. Im Kofferraum hat er "eine Filmapparatur für die Vorführung von Lehrfilmen dabei. Ich hielt Vorträge." Und die Saarländer hören gerne zu: "Seine Ideen wurden an der Saar für gut geheißen", schreibt Neuberger, der bei Schön beobachtet, dass sich "vornehmlich der gute Psychologe entfaltet".

"Kontakte mit Menschen waren für mich immer ein Lebenselement", schreibt Schön. Spieler und ihre Charaktere so zu einer Mannschaft zu komponieren, dass sie Erfolg haben. Wie ein Dirigent, der seinen Musikern die schönsten Melodien entlockt, ohne dabei die Distanz zum Orchester zu verlieren. Das kann Schön schon damals. "Ich halte den Ausgleich von Spannungen, das Aufbauen von geknickten Spielern für eine der wichtigsten Aufgaben des Trainers", schreibt er.

Wolfgang Overath , Spielmacher der Weltmeister-Mannschaft 1974, erinnert sich: "Vor der WM hatte ich kein Selbstvertrauen. Ich hatte sogar überlegt abzusagen. Schön rief an und sagte: Wolfgang, Sonntag bist du in Malente. Keine Diskussion. Feierabend." Overath kommt und dirigiert Deutschland zum Titel. Dennoch steht Schön in der Kritik der breiten Öffentlichkeit. Nicht nur, weil die lieber Günter Netzer in der Startelf sehen würde, sondern vor allem nach der Vorrundenniederlage gegen die DDR. Nach dem 0:1 heißt es, Franz Beckenbauer habe Schön entmachtet, die Mannschaft in der "Nacht von Malente" (Saufgelage) selbst umgestellt und so den WM-Titel erst ermöglicht. "Nein", sagt Overath Jahrzehnte später. "Schön hat viel mit uns geredet. Die Entscheidungen hat aber am Ende nur er alleine getroffen." Die fehlende Anerkennung schmerzt Schön. Genau wie die aus seiner Sicht viel zu hohen Prämienforderungen. Die Verhandlungen vor der WM hätten ihn fast zum Rücktritt getrieben. "Schön sei aus der Zeit gefallen", hieß es damals. Erfolgreich gemeistert hat er sie dennoch.

Auch im Saarland. 1954 soll der Sachse die Saarländer zur WM in die Schweiz führen. In der Qualifikationsgruppe heißen die Gegner Norwegen und Deutschland. Ausgerechnet. Doch Schöns Saar-Elf ist gut aufgestellt. In den 50er Jahren hat der Fußball hierzulande Top-Niveau. Der Homburger Kurt Clemens, der unter anderem für den 1. FC Saarbrücken und Saar 05 spielt, gilt 1954 als wertvollster Spieler Europas, hat Angebote von Real und Barcelona. Er lehnt beide ab. Der 1. FC Saarbrücken steht 1943 und 1952 im Finale um die Deutsche Meisterschaft, schlägt 1951 Real Madrid im heutigen Bernabeu-Stadion 4:0 und gewinnt 1955 beim AC Milan 4:3. Borussia Neunkirchen steht 1959 im DFB-Pokal-Finale.

Dennoch fährt das Nationalteam im April 1953 als Außenseiter nach Oslo. Die Mannschaft liegt schnell 0:2 gegen Norwegen hinten, doch Herbert Binkert, Werner Otto und Gerhard Siedl drehen das Spiel zum 3:2. Die Saarländer feiern im Grand Hotel bis zum Morgengrauen. Deutschland schafft in Norwegen nur ein 1:1. Das Saarland ist Tabellenführer. Das Hinspiel gegen die BRD findet am 28. Oktober 1953 in Stuttgart statt. 3:0 für Deutschland, aber gute Kritiken für das Saarland. "Helmut, wir sollten froh sein, dass das Spiel vorüber ist. Ich bin es jedenfalls", sagt Herberger danach. "Die Saar-Elf war, wenn es galt, ein verschworener Haufe[n]! Der Rädelsführer? Helmut Schön , Lehrer, Kamerad, Freund", lobt Neuberger. "Er war ein sehr guter Trainer. Und Freund", sagt auch Stürmer Binkert.

Das Rückspiel gegen Norwegen im Ludwigspark endet 0:0. Deutschland gewinnt gegen die Nordmänner 5:1. So muss der 28. März 1954 im Saarbrücker Ludwigsparkstadion die Entscheidung bringen. Wer fährt zur WM? Gewinnt Deutschland, ist es in der Schweiz dabei. Gewinnt das Saarland, kommt es zu einem Entscheidungsspiel im Pariser Prinzenpark. 53 000 Zuschauer sind im Ludwigspark. Das Saarland brilliert in Halbzeit eins, Deutschland reagiert nur. "Es hat eine Halbzeit böse für uns ausgesehen, und ich weiß nicht, was geworden wäre, wenn die Saar einen Vorsprung erreicht hätte", erinnert sich Deutschlands Torwart Toni Turek. Der Park bebt, doch am Ende steht es 3:1 für Deutschland. Schöns Mannschaft bekommt das Lob der Presse, Deutschland fährt als Außenseiter in die Schweiz. Der Rest ist Geschichte . Nach dem "Wunder von Bern" ist die saarländische Mannschaft mit Schön auf Einladung des DFB in der Schweiz. "Da habe ich Seppl Herberger umarmt", erinnert sich Schön. "Wir müssen ein schönes Paar abgegeben haben: Der Kurze und der Lange - innig vereint."

Ab 1956 ist Schön endgültig mit seinem Mentor Herberger vereint, wird sein Assistent, 1964 sein Nachfolger. 1995 stirbt der Sachse nach schwerer Alzheimer-Krankheit in Wiesbaden. Es saßen Frau Annemarie und Sohn Stephan an seinem Bett. An seinem Todestag weht wie heute die Udo-Jürgens-Hommage "Der Mann mit der Mütze" durch die Republik. Besonders laut durchs Saarland.