Wohn-Wahnsinn unter den Dächern von Paris

Paris · 1,56 Quadratmeter Wohnfläche für 330 Euro im Monat – unmöglich? Nicht in Paris. Die französische Metropole ist eines der teuersten Pflaster in Europa. Inzwischen laufen Prozesse gegen Vermieter solcher Mini-Wohnungen.

 Minimaler Platz maximal genutzt: Über der Küche dieser Wohnung ist ein Bett unter die Dachschräge gebaut. Die Dachkammer im Herzen von Paris ist gerade mal zwölf Quadratmeter groß. Foto: Holzer

Minimaler Platz maximal genutzt: Über der Küche dieser Wohnung ist ein Bett unter die Dachschräge gebaut. Die Dachkammer im Herzen von Paris ist gerade mal zwölf Quadratmeter groß. Foto: Holzer

Foto: Holzer

330 Euro Monatsmiete für 1,56 Quadratmeter Wohnfläche, Waschbecken inklusive und Toilette auf dem Gang - das ist selbst in Paris Wucher, wo Wohnungen klein, teuer und hart umkämpft sind. "Aber immer noch besser als auf der Straße", sagt Dominique. Deshalb hauste der französische Künstler 15 Jahre lang in so einem Zimmerchen, in dem er kaum aufrecht stehen konnte und das die Vermieterin im Vertrag vorsichtig als "Nutzraum" umschrieb.

Der heute 55-Jährige, froh darüber, zumindest ein Dach über dem Kopf zu haben, hatte die Kammer mit einem Elektroheizer und Kochplatten "möbliert", die gelegentliche Dusche erledigte er bei Freunden und er wäre geblieben, hätte nicht eine Nachbarin die Behörden alarmiert. Im März 2012 informierte die Präfektur Dominique darüber, dass er drei Monate Zeit habe, um sein Zimmer zu verlassen, da es für die Bewohnung ungeeignet sei. Daraufhin wandte er sich an die Stiftung Abbé-Pierre, eine Wohltätigkeitsorganisation, die für menschenwürdigen Wohnraum kämpft. Sie ermutigte Dominique zur Klage gegen seine frühere Vermieterin. Zurzeit läuft der Gerichtsprozess, bei dem er 25 000 Euro von ihr verlangt, das sind die Mieten der fünf vergangenen Jahre, sowie eine Entschädigungszahlung. Mitte Dezember soll das Urteil fallen.

Dominiques Fall mag krass klingen, der einzige ist er nicht. Zuletzt wurde im Januar ein Vermieter in Paris zu einer Entschädigungszahlung von 20 000 Euro verurteilt, der jahrelang für ein Zimmer von 5,78 Quadratmetern 430 Euro verlangt - und bekommen - hatte. Die Gesundheitsagentur der Hauptstadt-Region schätzte dort die Zahl der "unwürdigen Wohnungen" im Jahr 2010 auf 177 445.

In ihrem Buch "Paris ohne das Volk" beschreibt die Geografin Anne Clerval, wie nach und nach die letzten einfachen Schichten, aber auch die Mittelklasse aus der Stadt verdrängt werden. "Im Vergleich zum gesamten Großraum Paris erscheinen fast alle Viertel in der Hauptstadt als gutbürgerlich oder wohlhabend", erklärt sie. Soziale Mischung fände kaum mehr statt: "In Paris zu wohnen, stellt immer mehr ein klares Zeichen sozialer Dominanz dar." Vor allem Familien werden immer mehr in die Vorstädte gedrängt. Millionen Menschen pendeln jeden Tag in die Arbeit nach Paris. Denn das Wohnen innerhalb der Stadtgrenzen hat einen Preis, der stolz ist und manchmal exzessiv, wie in Dominiques Fall.

Seine Anwältin Aurélie Geoffroy argumentierte im Gerichtsverfahren, die von ihm bezahlte Miete von umgerechnet 220 Euro pro Quadratmeter habe den Pariser Durchschnitt um das Zehnfache überstiegen: "Er lag sogar weit über den Mieten auf den Champs-Élysées." Das stellte der Verteidiger der Vermieterin, Olivier Douek, zwar nicht in Abrede, erklärte aber, dass das Zimmer durch extreme Dachschrägen beeinträchtigt und eigentlich größer sei: "In Wirklichkeit, wenn man die Höhe nicht mit berücksichtigt, hat es vier Quadratmeter."

Das legale Minimum für eine bewohnbare Fläche liegt in Frankreich bei neun Quadratmetern und "Wohnungen" in dieser Größenordnung finden sich in Paris durchaus. Meist sind dies ehemalige Dienstmädchenzimmer ("Chambres de bonne") im Dachgeschoss prächtiger Stadtpalais, wo die bourgeoisen Familien ab 1830 ihre Hausmädchen unterbrachten, als die Angestellten nicht mehr bei ihren Hausherren schliefen. In diesen "Chambres de bonne" herrschten teilweise so erbärmliche hygienische Zustände, dass sie bei der Tuberkulose-Ausstellung 1906 in Paris mit Gefängniszellen verglichen wurden. Auch heute noch führt manchmal ein gesonderter Dienstbotenaufgang in diesen letzten Stock. Und während die Wohnungen in den übrigen Etagen großzügig geschnitten sind und mit Stuck verzierte Wände haben, herrscht hier schlichte Kargheit. Trotzdem sind die Kämmerchen in der obersten Etage beliebt.

Auf einem minimalen Wohnraum wird jeder Zentimeter maximal ausgenutzt. "Man muss sich vielleicht ein wenig beschränken", räumt der Immobilienmakler Antoine Cazalis de Fondouce ein. "Doch dafür wohnt man im Herzen von Paris." Bei Wohnungsbesichtigungen ermutigt er kleiner gewachsene Interessenten, sich auf die Zehenspitzen zu stellen und einen Blick aus dem Dachfenster zu werfen: Denn es stimmt, in der Ferne erkennt man tatsächlich den Eiffelturm. Und wer aus der Haustür geht, steht mitten im Pariser Stadtleben. "Was will man mehr?" Stolz verweist Cazalis de Fondouce auf die optimierte Raumeinteilung der zwölf Quadratmeter: Unten gibt es Kochnische, Tisch mit Stuhl, Wandschrank, Nasszelle. Den Schlafbereich direkt unter der Dachschräge erklimmt man über eine Leiter. Aufrecht sitzen kann man im Bett nicht, aber dort wird ohnehin nur gelegen. Die Gemeinschaftstoilette am Gang ist nur ein paar Meter entfernt. Und das alles für schlappe 550 Euro ohne Nebenkosten.

Cazalis de Fondouce hat sich auf den Immobilien-Verkauf am linken Seine-Ufer spezialisiert, auf die historischen Studenten- und Intellektuellenviertel Quartier Latin und Saint-Germain-des-Prés. Doch da es sich mit um die teuersten Bezirke der Stadt handelt, können es sich Studenten und Künstler kaum mehr leisten, hier zu wohnen - es sei denn, ihre vermögenden Eltern übernehmen die Miete. Oder sie ergattern eben eine der Dachkammern. Offiziell gibt es davon mehr als 20 000 in Paris, doch viele Vermieter deklarieren die Mini-Wohnungen erst gar nicht.

Sie wird das "Duflot-Gesetz" deshalb auch nicht treffen, das nun beschlossen wurde und 2016 in Kraft tritt: Cécile Duflot, die grüne Ministerin für sozialen Wohnungsbau, sieht darin eine Deckelung der Mieten auf 30 Prozent des Durchschnittspreises in einer Stadt vor. Auch hat sie den Neubau von tausenden Sozialwohnungen versprochen, um die Wohnungssituation zu entspannen und Paris nicht zu einem "Reichen-Ghetto" werden zu lassen.

Der Mangel an Wohnraum und das Wachsen der Armut zwinge immer mehr Menschen dazu, Wohnungen zu akzeptieren, die keine sind, sagt Patrick Doutreligne von der Stiftung Abbé-Pierre. "Wir sehen Vermietungen in Garagen oder in Kellern, die auf dem Markt sind wie normale Wohnungen." In manchen Fällen kann die Stiftung aber auch Abhilfe schaffen - wie bei Dominique. Ihm vermittelte sie eine staatlich bezuschusste Sozialwohnung, pro Monat bezahlt er nun 390 Euro - für 40 Quadratmeter. Ein Luxus, den er zu schätzen weiß: "Mir erscheint das riesig."

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