Kolumne zur WM Unterschied von Brutto und Netto ist besonders groß

Für die ersten Teams ist die Vorrunde der WM beendet. Was von den Spielen in Katar derzeit am meisten hängen bleibt, sind die außergewöhnlich langen Nachspielzeiten. Ein Modell auch für den Amateurfußball?

Der Ball ist rund, und ein Spiel dauert 90 Minuten. Würde Sepp Herberger, von dem diese oft zitierten Sätze stammen, heute noch leben, er würde sich wundern, was gerade in Katar in Sachen exorbitante Nachspielzeiten passiert. Rekordverdächtig waren die zehn Minuten Nachspielzeit nach der ersten und die 14 nach der zweiten Halbzeit beim dramatischen 2:1 Saudi-Arabiens gegen Argentinien.

Als ich neulich mal wieder Jugendspiele pfiff und eine Mannschaft mit 0:1 hintenlag, rief deren Trainer kurz vor dem Ende rein: „Nachspielzeit wär‘ keine schlechte Idee.“ Das sah ich auch so – und gab bei zweimal 30 Minuten in der D-Jugend eine Minute obendrauf. Viel Grund gab es nämlich nicht, in dem Alter denken die Kinder nicht wirklich an Zeitspiel.

Übrigens gilt es, den Unterschied zwischen unabsichtlich verlorener und vergeudeter Zeit zu beachten. Klassische Beispiele sind Behandlungspausen bei Verletzungen. Oder wenn der Torwart den Ball gehen holen muss. Bei vergeudeter Zeit geht es um Absicht. Verlorene Zeit muss immer nachgespielt werden, vergeudete Zeit kann nachgespielt werden.

Wie hätten die Kinder reagiert, wenn ich 14 Minuten Nachspielzeit angezeigt hätte? Mit nur zehn Fingern. Spaß beiseite, ein unschöner Nebeneffekt eines solchen WM-Turniers ist, dass im Jugend- und Amateurfußball die Unsitten gerne schnell aufgegriffen werden. Wie das Maulen nach Entscheidungen. Und vielleicht will nach einem hart umkämpften Bezirksligaspiel die mit 0:1 zurückliegende Heimmannschaft künftig lieber zehn als eine Minute Nachspielzeit und fordert vehement mehr.

Der Gedanke der Nachspielzeit (die übrigens auch noch nach Ermessen verlängert werden kann) ist gut: Dass der Ball nämlich möglichst lange in den 90 Minuten im Spiel ist, dass die Zuschauer viel Fußball sehen statt Zeit schindende Spieler, die sich nach jedem Zusammenstoß fallen lassen und liegen bleiben. Als Schiri weiß ich nämlich so gut wie nie: Hat er wirklich was? Oder will er mal nur ein Päuschen für die schnaufenden Mitspieler initiieren.

Eigentlich wäre eine Nettospielzeit naheliegend. Und am fairsten. Und am klarsten. Basketball, Handball, Eishockey – alle großen Publikumssportarten praktizieren das. Ist der Ball im Aus, der Puck vom Torwart begraben oder ein Foul passiert, wird die Zeit gestoppt. Versteht jeder. Ähnlich wie jeder Arbeitnehmer den Unterschied zwischen Brutto und Netto schnell und schmerzlich zu verstehen lernt.

Das große Aber: Der Fußball, dieser Sport des Ungefähren, der Grauzonen, des Wembley-Tors, der Grenzentscheidungen, die meist dem Schiedsrichter aufgebürdet werden – er würde einen Teil seines ihn ausmachenden Charakters verlieren. Und so weit dürften die Regelhüter des Fifa-Bords (IFAB) sicher nicht gehen. Die Schauspielereien mancher Profis à la Neymar dürften dadurch aber schlagartig gestoppt sein. Und Herr Herberger, Gott hab ihn selig, würde dann vielleicht sagen: Ein Spiel dauert 60 Minuten. Netto.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort