„Wir haben kein Italien-Trauma“

Évian · Noch nie konnte Deutschland ein Pflichtspiel gegen Italien gewinnen. Am Samstag treffen sie in Bordeaux im EM-Viertelfinale zum neunten Mal in einer Endrunde aufeinander. Diesmal soll endlich ein Sieg her.

Die Zeiten haben sich geändert. Das war nicht mehr der Bundestrainer aus den Jahren 2008, 2010 und 2012, der gestern auf dem Pressepodium in Évian saß. Auch wenn er immer noch Joachim Löw heißt. Die Journalisten nudelten ihre Trauma-Fragen zum Spiel gegen die Italiener ab, zum Viertelfinale dieser Fußball-EM in Frankreich am Samstag in Bordeaux (21 Uhr). Noch nie haben die Deutschen ein Pflichtspiel gegen die "Squadra Azzurra" gewinnen können, zuletzt gab es die böse 1:2-Halbfinal-Niederlage bei der EM in Polen 2012. Wird das wieder passieren? Löw saß da, lächelte und sagte Sätze wie: "Wir haben kein Italien-Trauma. Das ist kalter Kaffee. Ein frischer Espresso ist uns lieber, und ich hoffe, dass uns der am Samstag besser schmeckt." Gelächter im Auditorium.

Der 56-Jährige versuchte auch nicht, seine Fehler aus der Vergangenheit schön zu reden. Etwa den, nicht zu versuchen, das eigene Spiel gegen starke Gegner durchbringen zu wollen. Wie im WM-Halbfinale 2010 und im EM-Finale 2008 gegen Spanien. Oder wie im besagten Halbfinale 2012 gegen Italien. Damals hatte er Toni Kroos als Sonderbewacher für Spielmacher Andrea Pirlo auf den Rasen geschickt, hatte seine Taktik nach den Italienern ausgerichtet - und nicht versucht, das eigene, damals schon starke Offensivspiel durchzubringen. Dieser fehlende Glaube machte die Deutschen damals schwach und die damals schwachen Italiener stark. "Das war eine sehr schmerzliche Niederlage", sagte Löw gestern. "Daraus haben wir unsere Lehren gezogen. Die Mannschaft. Und auch ich." Das habe dazu geführt, dass die Mannschaft 2014 bei der WM in Brasilien ihre Stärken auf den Platz gebracht habe und nicht vor denen des Gegners erstarrt war. Am Ende stand der Titel.

Natürlich habe er gesehen, dass die Italiener nicht mehr die sind, die sie 2012 waren. Pirlo spielt nicht mehr, klar. Aber "sie haben auch gemerkt, dass sie mit Catenaccio allein nicht mehr gewinnen können". Sie stehen eben nicht nur mehr hinten drin, um zu verteidigen. "Sie spielen auch sehr gut nach vorne", weiß Löw, was jeder beim 2:0-Sieg der Italiener im Achtelfinale gegen Spanien sehen konnte. "Sie sind besser als 2012", sagte Löw. Das sei ein Verdienst von Trainer Antonio Conte. "Er hat als Vereinstrainer bereits Juventus Turin auf ein höheres Niveau gehoben." Er habe den italienischen Fußball verändert. Dazu komme, "dass ihr Zweikampfverhalten vorbildhaft ist". Ihr taktisches Verständnis untereinander sei eh Klasse. Dazu komme, dass die Italiener die älteste Mannschaft im Turnier sind, erfahrener als die deutsche, die die jüngste im Teilnehmerfeld ist.

Natürlich geht Löw nicht zwangsläufig von einem Sieg aus, aber er scheint den Weg dahin zu kennen. Der führe "grundsätzlich über Bescheidenheit und Demut. Das ist das Gebot der Stunde", sagte er. Weiter hart arbeiten, weiter die eigenen Laufwege optimieren, den Gegner analysieren, Lücken finden und sie im Spiel nutzen. "Das werden wir unter der Woche trainieren."

Gestern übrigens nicht, die Mannschaft hatte bis 18 Uhr am Abend frei. "Ich glaube, dass es ein hochinteressantes Spiel werden wird", sagte Löw. Was nicht passieren dürfe, wäre ein deftiger Rückstand, dann "schießen sie die Bälle auf die Tribüne und lächeln dabei". Darin haben sich die Italiener nicht geändert. Aber "ich vertraue unseren Fähigkeiten, und wenn wir sie abrufen, werden wir gewinnen." Dieser offen nach Außen getragene Glaube ist bei Löw neu. Dieser Glaube macht Hoffnung, dass das Trauma ein Ende findet. 20 Tore hat er in der abgelaufenen Bundesliga-Saison für den FC Bayern geschossen. So viele wie noch nie. Bei der WM 2010 war er mit fünf Treffern Torschützenkönig, traf 2014 in Brasilien ebenfalls fünf Mal. Doch bei Europameisterschaften läuft es für Thomas Müller nicht. Der 26-Jährige ist jetzt bereits seit neun EM-Spielen ohne Tor, trifft wahlweise den Pfosten, die Latte - aber nicht ins Tor. "Er ist ein Typ, der immer gewinnen will - ob er Golf, Tischtennis oder Fußball spielt", sagte Löw gestern über den Mann, der über die rechte Offensivbahn stürmt.

Und nicht traf. Im ersten Spiel gegen die Ukraine hatte er nicht eine Chance. Im dritten gegen die Nordiren dafür umso mehr. Allein drei Hochkaräter in Halbzeit eins. Dass er nicht trifft, das nagt natürlich an ihm. "Wenn man in meiner Haut steckt, Torchancen hat und dann ohne Tor nach Hause geht, dann ist es schon ein bisschen ärgerlich", sagte der Stürmer. Dass er aber wegen seiner Flaute nun in Ungnade beim Trainer fallen würde, ist beileibe nicht so. Löw sieht auch die anderen Qualitäten des Thomas Müller : "Er hat am Sonntag gegen die Slowakei die beste Laufleistung von allen Spielern gezeigt. Und wenn unsere Defensivleistung gelobt wird, dann beginnt das auch vorne. Er macht unheimlich viele Wege, offensiv - wie defensiv." Löw sei mit ihm "maximal zufrieden".

Dass sich Müller nun einen zu großen Kopf um seine Torflaute mache, glaubt Löw nicht. Auch wenn "Thomas ein sehr reflektierter Mensch sei" und nicht nur der Clown, den er gerne vor der Kamera mimt. Wichtiger sei, "dass er ein Mannschaftsspieler" sei. Der, so sagte Müller selbst, auch zufrieden ist, "wenn ich erst im Finale mein erstes EM-Tor schieße".

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