Von der "Pyramide" zum 4-3-2-1-System

Es war während der Fußball-Europameisterschaft 2004 in Portugal, die für Deutschland im Desaster enden sollte. Der englische Sportjournalist Jonathan Wilson saß mit anderen Berichterstattern in einer Bar und debattierte das taktische System der Engländer, bis ein Kollege nicht mehr folgen mochte. "Das System ist doch unwichtig", entfuhr es ihm

Es war während der Fußball-Europameisterschaft 2004 in Portugal, die für Deutschland im Desaster enden sollte. Der englische Sportjournalist Jonathan Wilson saß mit anderen Berichterstattern in einer Bar und debattierte das taktische System der Engländer, bis ein Kollege nicht mehr folgen mochte. "Das System ist doch unwichtig", entfuhr es ihm. "Es lohnt sich überhaupt nicht, darüber zu schreiben." Wilson schwieg und verfasste nach diesem Abend eine Geschichte der Fußballtaktik, die im Mutterland des runden Leders zum Fußballbuch des Jahres 2008 gekürt wurde. Unter dem Titel "Revolutionen auf dem Rasen" ist es nun auf Deutsch erschienen.Wilson fängt in seiner Geschichte ziemlich weit vorne an- Er führt den Leser ins England der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Damals entwickelte sich auf der Insel ein Spielsystem mit zwei Verteidigern, drei Spielern im Mittelfeld und fünf Stürmern, das Epoche machen sollte: die "schottische Furche". Bis weit ins 20. Jahrhundert war dieses 2-3-5-System weltweit Standard. Zeichnet man die einzelnen Positionen der "Furche" auf, so hat man ein Dreieck vor sich, das die Engländer "Pyramide" nennen. Wilson zeigt, wie die "Pyramide" später auf den Kopf gestellt wurde. Deutschland gewann 1990 die WM in Italien und sechs Jahre später auf englischem Boden die EM in einem 5-3-2-System mit Libero und Manndeckung.

Das Buch bietet aber weitaus mehr als solche Zahlenspiele. Wilson weiß Systeme und Spielweisen zu analysieren, ohne zu theoretisieren. Anekdotenreich und mit viel Liebe zum Detail widmet er sich der Entstehung taktischer Innovationen, sei es das in den 1920er Jahren entwickelte W-M-System, die Defensivtaktik des italienischen Catenaccio oder der atemberaubende "Totaalvoetball" der Niederländer unter Trainer Rinus Michel.

Überhaupt sind für Wilson die Trainer die großen Männer in der Geschichte des Spiels. So begleitet er einen eigenwilligen Charakter wie Arrigo Sacchi, dessen AC Mailand vor 20 Jahren den Weltfußball revolutionierte, auf dem Weg zum modernen Fußball. Sacchi schaffte den Libero ab und ließ nicht mehr Mann gegen Mann verteidigen. Stattdessen reüssierte er mit Viererkette und ballorientierter Raumdeckung.

Es dauerte bis zum desaströsen Vorrunden-Aus bei der EM 2004, ehe man solch taktische Innovationen im deutschen Spitzenfußball nachvollzog. Danach entschied sich der DFB für einen Neuanfang mit Jürgen Klinsmann und Joachim Löw. Sie wurden zu Entwicklungshelfern im Land des dreimaligen Weltmeisters. Vor allem Löw trieb die taktische Modernisierung der Nationalelf voran. Für die deutsche Ausgabe hat der Autor seine klugen Analysen des im Moment dominierenden und auch von den Deutschen bevorzugten 4-2-3-1-Systems auf den Stand der WM 2010 gebracht.

Lehrreich und unterhaltsam

"Revolutionen auf dem Rasen" ist lehrreich und unterhaltsam wie kaum ein anderes Fußballbuch der vergangenen Jahre. Vieles darin dürfte den deutschen Lesern neu sein. So neu, dass sie sich ein zweites Mal in das Spiel verlieben werden.

Jonathan Wilson: Revolutionen auf dem Rasen. Eine Geschichte der Fußballtaktik, Verlag Die Werkstatt, Göttingen 2011, 464 Seiten, ISBN 978-3-89533-769-7, 19,90 Euro.

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