Verfahrensfehler sollen Unschuld belegen

Berlin. Vertauschte Proben, riesige Werteschwankungen, gravierende Formfehler: Eisschnelllauf-Olympiasiegerin Claudia Pechstein hat gestern in Berlin ihre Verteidigungsstrategie offen gelegt. "Man wird ja irre, wenn man zu Hause sitzt und die Schlagzeilen liest

Berlin. Vertauschte Proben, riesige Werteschwankungen, gravierende Formfehler: Eisschnelllauf-Olympiasiegerin Claudia Pechstein hat gestern in Berlin ihre Verteidigungsstrategie offen gelegt. "Man wird ja irre, wenn man zu Hause sitzt und die Schlagzeilen liest. Ich habe den Doping-Stempel auf der Stirn mit dem Wissen, nichts gemacht zu haben", sagte die 37-Jährige bei ihrer ersten Pressekonferenz seit dem Urteil des Weltverbandes ISU.

Obwohl ihr Anwalt Simon Bergmann betonte, in der Berufungsverhandlung vor dem Internationalen Sportgerichtshof CAS nicht nur auf Formfehler setzen zu wollen, stellten die Berlinerin und ihr Manager Ralf Grengel Recherche-Ergebnisse vor, die sie entlasten sollen. Die fünfmalige Olympiasiegerin griff die ISU massiv an. "Die ISU sollte sich Gedanken machen, das Urteil aufzuheben und sich schnellstens bei mir entschuldigen", sagte die gesperrte Pechstein, die ihre sechste Olympia-Teilnahme 2010 in Vancouver anstrebt.

Belegt durch Originaldokumente und untermauert von zwei Experten wurden die Indizien für die Sperre in Zweifel gezogen. So sollen acht der 20 Trainingskontrollen Pechsteins und drei Wettkampfproben, die als Beweismittel vor dem Schiedsgericht der ISU dienten, nicht eindeutig einer Person zugeordnet worden sein. Betroffen seien auch Daten, die erhöhte Retikulozytenwerte ausweisen und somit von Konkurrentinnen stammen könnten. Offen sei laut Anwalt Bergmann nach wie vor, in welchen Laboren und unter welchen Umständen die 14 erhöhten Reti-Werte bei ihren 95 öffentlich gemachten Blutkontrollen stammten.

Zum Beweismaterial beim Hauptverfahren vor dem Internationalen Sportgerichtshof CAS im Herbst gehört auch eine Probe vom 15. April, die in verschiedenen Laboren gravierende Schwankungen aufwiesen. In Kreischa seien ihre Retikulozyten, eine Vorstufe der roten Blutkörperchen, mit 2,4 Prozent gemessen worden, in Lausanne mit einem anderen Analysegerät nur mit 1,3 Prozent.

Harm Kuipers, Chef-Mediziner der ISU, reagierte mit Verwunderung. "Es ist merkwürdig, dass so unterschiedliche Werte herauskommen", erklärte der Niederländer. "Ich kann mir nur vorstellen, dass dies mit der Eichung des Geräts in Kreischa oder einer falschen Kühlung der Probe zusammenhängt." Der Doping-Analytiker Wilhelm Schänzer urteilte nach der Pressekonferenz: "Die Verteidigung ist gut aufgestellt. Das Verfahren wird sehr interessant." Anti-Doping-Kämpfer Werner Franke warf Pechstein dagegen vor, keine Fakten zur medizinischen Aufklärung beigetragen zu haben. dpa

Meinung

Eine Sperre auf wackligen Füßen

Von SZ-Redakteur

Mark Weishaupt

Hat Claudia Pechstein gedopt oder nicht? Diese Frage kann derzeit niemand beantworten. Trotzdem ist die Eisschnellläuferin gesperrt - aufgrund von Indizien, nicht aufgrund einer positiven Probe. Dies ist laut den seit 1. Januar gültigen neuen Statuten der Welt-Anti-Doping-Agentur Wada möglich, die es erlauben, einen Athleten auch "bei starken Indizienketten ohne positiven Befund" zu sperren.

Vom Ansatz her mag diese Idee der Wada ja gut sein - aber praktikabel ist sie wohl nicht, wie der Fall Pechstein beweist. Denn wenn ein und dieselbe Blutprobe in zwei verschiedenen Labors zwei unterschiedliche Ergebnisse hervorrufen, darf diese Blutprobe nicht als Maßstab dafür genommen werden, über Schuld oder Unschuld eines Sportlers zu richten. Und wenn selbst der Chef-Mediziner des Eisschnelllauf-Weltverbandes die Sache mittlerweile "merkwürdig" findet, bleibt nur eines: die Sperre von Pechstein vorläufig aufzuheben. Ob sie nun gedopt hat oder nicht.

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