Tempo + Präzision + Technik = Erfolg Bruch zwischen Maradona und MessiThomas Müller: Der tragische Held, der zuschauen muss

Kapstadt. Oh wie ist das schön! Klar, dass deutsche Fans das nach einem 4:0 gegen Argentinien singen. Der Nachmittag von Kapstadt hat beeindruckt. So schön. Die ganze Fußball-Welt ist beeindruckt. Während wir von der Schönheit des neuen deutschen Fußballs schwärmen, wird andernorts die Kraft besungen, das Tempo, das die Deutschen vorlegen. Die 73

Kapstadt. Oh wie ist das schön! Klar, dass deutsche Fans das nach einem 4:0 gegen Argentinien singen. Der Nachmittag von Kapstadt hat beeindruckt. So schön. Die ganze Fußball-Welt ist beeindruckt. Während wir von der Schönheit des neuen deutschen Fußballs schwärmen, wird andernorts die Kraft besungen, das Tempo, das die Deutschen vorlegen.

Die 73. Minute: Bastian Schweinsteiger hat Lust aufs Spielen, spaziert derart sicher durch des Gegners Abwehr, dass sich manch einer an Diego Maradonas Solo gegen England (2:1) bei der WM 1986 erinnert fühlt. Sein Pass beschert Arne Friedrich das erste Länderspiel-Tor. Sein Lustlauf ist der Messi-Moment des Spiels. Das war schön! Aber untypisch für das deutsche Spiel.

In Joachim Löws Art, Fußball spielen zu lassen, sind Dribblings nicht vorgesehen. Vor dem Spiel hatte er gesagt, was er erwartet. Die Spieler sollten laufen, laufen, laufen. Das taten sie.

Wenn Lionel Messi drei Gegenspieler aussteigen lässt, geht ein Raunen durchs Publikum. Da spielt ein Fußballer schön.

Ein Raunen geht auch durchs Stadion, wenn die Deutschen ins Rennen kommen. Dann wird das Tempo und die Präzision des Passspiels bestaunt. Da spielt eine Mannschaft schön.

Vom Willen seiner Spieler hat Löw geschwärmt nach der Demontage von Maradonas Einzelspieler-Fußball, vom Willen weite Wege zu gehen. Da spielt eine deutsche Elf Argentinien an die Wand. Alle schwärmen vom neuen Kreativspiel. "Natürlich wissen die Spieler, dass sie gute Fußballer sind", hat der Bundestrainer gesagt. In einem Nebensatz versteckt war der Unterschied zum alten deutschen Panzer-Fußball. Statt Ballschlepper mit bescheidenen technischen Qualitäten laufen begabte Kicker auf. Schicken und schicken lassen. Das ist Löws Motto. Passen und anbieten. So werden Gegenspieler ausgespielt. Eins gegen Eins wird vermieden. Der Ball läuft schneller als der Mensch. Aber nur, wenn er präzise gespielt wird, kann derjenige ihn erlaufen, für den er gedacht war.

Dass das so oft gelingt bei der WM, liegt an der technischen Versiertheit der Spieler. Mesut Özil wird zurecht als Spielmacher gefeiert: Übersicht, Passgenauigkeit, Schnelligkeit machen ihn unverzichtbar im Kreativspiel. Thomas Müller fällt, bedrängt von zwei Gegenspielern, fast immer eine Lösung ein, die das Angriffsspiel weiterbringt. Das zeigt, welch guter Kicker er ist. Und er rennt auf rechts in einer Geschwindigkeit rauf und runter wie kein zweiter bei der WM. Die Spanier werden froh sein, dass er gesperrt ist. Über der Urgewalt, mit der Lukas Podolski schießen kann, hat man bisweilen vergessen, wie gut er spielen kann. Er hat Ideen und kann sie umsetzen.

Davon profitiert Miroslav Klose. Wenn er weiter so im Sturm arbeitet wie bisher, Anspielstation ist und so schnell ansprintet, könnte er als bester WM-Torschütze in die Annalen eingehen. 15 Tore hat der Brasilianer Ronaldo erzielt. Das 4:0 war Kloses 14. Treffer.

Sie bewegen sich alle auf ihre eigene Art über den Platz, die vier Offensivspieler in Löws 4-2-3-1-System. Sie bewegen sich schnell, sind die rasenden Kreativspieler der WM. Sie sind keine Zauberer, sie sind Läufer, die mit dem Ball umgehen können. Dabei kommt es nicht so darauf an, weite Wege zu gehen. Die Argentinier sind mehr gelaufen. Es kommt darauf an, den richtigen Weg schnell zu finden. Dass sie so lange so schnell laufen können, dafür mussten sie hart arbeiten. "Fußball funktioniert nur noch unter Hochgeschwindigkeit: Beschleunigung, abruptes Stoppen. Das hat das Spiel verändert. Darauf bereiten wir die Athleten vor", hat Löws Fitnesstrainer Mark Verstegen vor der WM gesagt. Kaum eine andere Mannschaft ist in der Lage, auch am Spielende das Tempo beinahe nach Belieben zu erhöhen. Wieder haben die Deutschen eine der fittesten Mannschaften in eine WM geschickt. Weil es noch gute Kicker sind, sieht der Fußball so anders aus als in vielen Jahren zuvor. Kapstadt. Schlusspfiff. Lionel Messi stützte die Hände in die Knie. Als er sich wieder aufgerichtet hatte, lief ihm wegen seines Schnupfens die Nase, gedankenverloren griff er zum himmelblau-weißen Trikot, um es als Taschentuch zu missbrauchen. Dann stand er einfach nur da am Mittelkreis. Das Gesicht blass, die Augen leer. Die Szene verriet eine erschreckende Orientierungslosigkeit. So sehen verstörte Kinder aus, wenn sie nicht verstehen wollen, dass ihnen gerade das liebste Spielzeug abhanden gekommen ist. Die Fotografenmeute am Spielfeldrand klickte hundertfach auf ihre Auslöser, als sich Diego Armando Maradona zu seiner Nummer zehn gesellte. Zwei Symbolfiguren des Schmerzes.

Während der Volksheld die Arme kräftig um den Körper des in Barcelona zum Mann gereiften Weltfußballers presste, hielt Messi von Maradona spürbar Distanz. Seine Hände drückten den Gegenüber nicht annähernd so herzlich. Weil Messi, 23, ahnt, dass der Aufstieg zu einer Figur der WM-Geschichte nur funktioniert, wenn Maradona, 49, künftig mehr Abstand von ihm hält? Es hätte ja wie im Märchen geklungen, wenn sein legitimer Nachfolger einfach die Zeit zurückgedreht und diesmal den Rest auch so ausgetrickst hätte, wie das Maradona 1986 tat.

Doch nun waren Messi und Maradona ausgespielt worden. Wie hat das passieren können? Maradona presste Floskeln hervor: "Deutschland hat vier Tore geschossen, wir keines - das ist der Unterschied." Die Sätze erinnerten an die Hilflosigkeit, die Messi in der Nationalelf befällt, weil er auf Maradonas Geheiß ohne Plan für sich spielt. "In 20 Sekunden kann Lio allein den Gegner zerstören", hatte der Trainer-Novize vor der WM getönt. Nicht ahnend, dass es bei der WM dafür weder Raum noch Zeit geben würde. Im Halbfinale stehen mit Uruguay, Niederlande, Deutschland und Spanien Mannschaften, die ihren Individualisten in einem funktionierenden System klar zugewiesene Freiräume gewähren. Einfach drauflos - das war einmal. Maradona verbat sich aber Kritik an Messi: "Es wäre dumm, wenn irgendjemand sagt, Lio habe unsere Farben nicht würdig vertreten. Es war wie ein Schlag von Muhammad Ali. Das ist die härteste Niederlage meines Lebens." Konsequenzen? "Ich habe mir noch keine Gedanken darüber gemacht, als Trainer aufzuhören. Ich muss erst mit meiner Familie und den Spielern sprechen."

Vielleicht schwant dem Hobby-Fußball-Lehrer, dass er dafür nicht befähigt ist. Bundestrainer Joachim Löw war zuvor so frei gewesen, Maradona auf eine lange Liste handwerklicher Fehler hinzuweisen. Rechts hinten der überforderte Nicolas Otamendi, links der überalterte Gabriel Heinze. Speziell die Personalie Heinze bereitet Argentinien unerträgliche Schmerzen, seitdem bekannt ist, dass der limitierte Linksverteidiger wohl auch aufgestellt wird, weil dessen Bruder eine Marketing-Gesellschaft namens "Passion" leitet. Sie wirbt damit, im Internet "die Marke Maradona" zu entwickeln. Ein Schelm, der Böses dabei denkt. Mit Nachfragen konfrontiert, geriet der gedemütigte "Dieguito" in Erregung. "Alles, was da gesagt wird, ist Unsinn. Ich suche nur die besten Spieler aus", sagte Maradona. Für Deutschland waren sie nicht gut genug. Kapstadt. Thomas Müller (Foto: afp) hat es erwischt. Und er konnte nichts dafür. Der viermalige WM-Torschütze war im Spiel gegen Argentinien Wegbereiter zum Sieg. Richtig jubeln konnte er nicht. Schiedsrichter Rawschan Irmatow aus Usbekistan lag nur einmal daneben: Er zeigte Müller die Gelbe Karte. Da es die zweite für den Mann von Bayern München ist, muss er im Halbfinale gegen Spanien zuschauen. Er war wie Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger, Sami Khedira, Mesut Özil, Cacau und Arne Friedrich vorbelastet. "Ich habe gewusst, was los ist, dass ich gesperrt bin. Das war ein bitterer Moment", sagte der 20-Jährige, dem in der 35. Minute der Ball unglücklich an die Hand gesprungen war: "Ich habe mich eine Minute geärgert, aber dann musste ich es abschütteln." Bundestrainer Joachim Löw erklärte: "Das Handspiel war nicht gelb-würdig." Und Gelbe Karten werden nun gestrichen . . . red/dpa

Auf einen Blick

Argentinien - Deutschland 0:4 (0:1).

Argentinien: Romero (AZ Alkmaar/23 Jahre/11 Länderspiele) - Otamendi (Vélez Sarsfield/22/10 - 70. Pastore/US Palermo/21/4), Demichelis (Bayern München/29/30), Burdisso (AS Rom/29/34), Heinze (Olympique Marseille/32/68) - Maxi Rodríguez (29/41), Mascherano (beide FC Liverpool/26/61), Di María (Benfica Lissabon/22/13 - 75. Agüero/Atlético Madrid/22/25) - Messi (FC Barcelona/23/50) - Higuaín (Real Madrid/22/9), Tévez (Manchester City/26/58).

Deutschland: Neuer (FC Schalke/24/10) - Lahm (Bayern München/26/70), Mertesacker (Werder Bremen/25/67), Friedrich (Hertha BSC/31/77), Boateng (21/8 - 72. Jansen/beide Hamburger SV/24/33) - Khedira (VfB Stuttgart/23/10 - 77. Kroos/Bayer Leverkusen/20/6), Schweinsteiger (25/79) - Müller (beide Bayern/20/7 - 84. Trochowski/HSV SV/26/34), Özil (Bremen/21/15), Podolski (1. FC Köln/25/78) - Klose (Bayern/32/100).

Schiedsrichter: Irmatow (Usbekistan). - Zuschauer: 64 100. - Tore: 0:1 Müller (3.), 0:2 Klose (68.), 0:3 Friedrich (74.), 0:4 Klose (89.). - Gelbe Karten: Mascherano, Otamendi/Müller. dpa

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